Die Mauern des »El Litoral«[1] erzählen eine Geschichte von Gewalt und Korruption. Ana Morales kennt sie nur zu gut. »Nein«, sagt sie und schüttelt energisch den Kopf. »Die Übernahme der Befehlsgewalt der Militärs über die Haftanstalten [2]hat an den Realitäten hinter Gittern nichts geändert.« Die 44-Jährige weiß, wovon sie redet, sie ist die Sprecherin der »Vereinigung der Familienangehörigen von Häftlingen« und gehört zu den wenigen Zivilist*innen, die regelmäßig Strafanstalten wie das »El Litoral« besuchen. Das mit rund 12 000 Insassen größte Gefängnis Ecuadors befindet sich nur ein paar Kilometer von der Küstenmetropole Guayaquil entfernt an der Straße in Richtung Durán und ist umgeben von Stadtvierteln wie Monte Sinaí, San Francisco oder Flor de Bastión. »Allesamt Armutsviertel mit hoher Mordrate, wo die Kartelle sich bekämpfen[3] und die städtische Infrastruktur mies ist«, bemerkt sie. Schotterpisten, mangelhafte Wasserversorgung und eine fehlende staatliche Präsenz prägen die Gegend.
Diese Viertel rund um das Gefängnis spiegeln die tieferen Probleme des Landes wider. »Hier wird seit Jahren nicht investiert. Die Menschen sind sich weitgehend selbst überlassen. Das prägt viele Stadtteile in Guayaquil und auch anderer Regionen«, erläutert die Aktivistin, die am anderen Ende der Stadt lebt. Das »El Litoral« besucht sie regelmäßig, seit dort ihr Sohn Miguel einsaß. »Weil er ein Mobiltelefon geklaut hat, wurde er zu zwei Jahren Haft verurteilt. Ein Fehler, für den er und auch ich teuer bezahlt haben«, sagt die Mutter, die um ihren verstorbenen Sohn trauert.
Miguel Morales gehört nämlich zu den 119 Opfern, die am 28. und 29. September 2021 bei dem bisher blutigsten Massaker hinter Gittern in »El Litoral« starben. Viele wurden bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und etliche von ihnen gerieten wie er zwischen die Fronten der Kartelle. Die Gewalt war nicht überraschend. Kriminelle Organisationen wirken schon lange auf die 36 Gefängnisse des Landes ein. Ungefähr zwei Dutzend davon agieren in Ecuador und überziehen immer größere Teile des Landes mit Gewalt, dem Verkauf von Kokain und anderer Drogen. Im »El Litoral« sind es vor allem die drei einflussreichen Syndikate Los Choneros, Los Lobos und Los Tiguerones, welche die insgesamt 123 Pavillons kontrollieren, in denen die Häftlinge untergebracht sind.
Die Verflechtungen dieser Syndikate reichen weit über Ecuadors Grenzen hinaus. Verbindungen gibt es etwa zu den mexikanischen Kartellen oder zur albanischen Drogenmafia, weiß Fernando Carrión, Sozialwissenschaftler der renommierten Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso). Ihre lokale Macht basiere dagegen auf einem durchdringenden System der Korruption. Carrión bestätigt, was Ana Morales aus ihren Besuchen weiß: »Im ›El Litoral‹ wird dafür gezahlt, nicht geschlagen zu werden, besseres Essen und eine bessere Zelle mit Infrastruktur zu erhalten.« Sie glaubt, dass die Kartelle heute wohl wieder den Ton in den Strafanstalten angeben – sie schmieren Armeeangehörige, um weiter koordinieren zu können, wer wo untergebracht wird und wie viel privilegierte Zellenplätze kosten. Sie organisieren aber auch Mobiltelefone, Internetzugang und Computer sowie den Schutz des einen oder anderen Kartells.
Diese systematische Unterwanderung der Gefängnis-Autorität stellt auch die Wirksamkeit der staatlichen Gegenmaßnahmen infrage. Fernando Carrión hält die Ausnahmezustände für wenig wirkungsvoll, die Präsident Daniel Noboa im vergangenen Jahr mehrmals ausgerufen hat, um den Einfluss der organisierten Kriminalität zurückzudrängen. »Der Einsatz der Militärs hat in der Öffentlichkeit und in den Vollzugsanstalten zwar zwischenzeitlich einen Effekt gehabt. Dieser ist aber nach ein paar Monaten weitgehend verpufft.« Als erschütternden Beleg dafür führt er das Massaker vom 13. November 2024 im »El Litoral« an: 17 Tote, 15 Verletzte sind ein blutiges Zeugnis der ungebrochenen Kartellmacht hinter Gittern. Für ihn ein Beweis dafür, dass die organisierten Gruppierungen entweder wieder oder immer noch die Strafanstalten beherrschen, und eine Politik der prallen Briefumschläge floriert. »Anfang Dezember kam es zum Einsatz von Granaten hinter Gittern – wieder im ›El Litoral‹. So etwas wäre unmöglich, wenn die Armee dort alles unter Kontrolle hätte, wie es Noboa immer wieder behauptet«, argumentiert Carrión.
Die Machtlosigkeit in den Gefängnissen sei symptomatisch für einen schwächelnden Staat, in dem sich paternalistische und klientelistische Strukturen ausweiten. »Da sehe ich einen Kreislauf«, meint Carrión. »Der Staat verliert an Gestaltungsmöglichkeiten und an Glaubwürdigkeit. Hinzu kommt, dass viele Menschen in diesem Land keine Steuern zahlen.« Darunter leide das Land erheblich.
Noboa hat wie viele Regierungschefs vor ihm im Januar 2024 eine Amnestie für säumige Steuerzahler*innen durch das Parlament gebracht. Doch davon profitiert auch der Noboa-Konzern, wahrscheinlich das größte und einflussreichste Firmengeflecht des Landes. Mario Melo, Dekan der juristischen Fakultät der Päpstlichen katholischen Universität von Quito, sieht darin ein verheerendes Signal: »Der Staat spart in einer solchen gravierenden Situation: Es fließt zu wenig Geld in das soziale System, in die Infrastruktur. In den Krankenhäusern gibt es keine Medikamente, die Armut steigt, und die Elite zahlt keine Steuern.« Diese Mängel tragen dazu bei, dass sich gesellschaftliche Spannungen verschärfen. Die Armut steigt ebenso wie die Zahl der Morde, aber auch die Auswanderung nimmt zu. Und eine Trendwende ist nicht in Sicht.
Mit umstrittenen Maßnahmen versucht die Regierung Noboa, die Kriminalität zurückzudrängen. Im März ist sie eine Kooperation mit dem Gründer des berüchtigten US-amerikanischen Militärdienstleisters Blackwater eingegangen: »Gemeinsam mit Erik Prince haben wir eine strategische Allianz gegründet, um unsere Kapazitäten im Kampf gegen den Drogenterrorismus und den Schutz unserer Gewässer vor illegaler Fischerei zu stärken«, erklärte Noboa am 14. März. Zu der Zeit befand er sich Wahlkampf und brauchte Erfolgsmeldungen. Während Kritiker an der Wirksamkeit solcher Maßnahmen zweifeln, konnte Noboa politisch dennoch Kapital daraus schlagen. Die Stichwahl hat Noboa gegen Lucia González im April letztlich deutlich gewonnen. Damit ist die Chance in Ecuador für eine weniger neoliberale und deutlich sozialere Politik vorerst wieder vorbei.
González’ Partei der Bürgerrevolution vermochte es noch nicht, sich von dem ehemaligen Präsidenten Rafael Correa (2007–2017) zu emanzipieren, der wegen Bestechlichkeit zu einer achtjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Unter Correa wurde allerdings in die Krankenhäuser, Straßen und Schulen investiert – und die heute lahmende Wirtschaft funktionierte unter seiner Regie. Von diesem positiven Image hoffte Lucia González zu profitieren, die vor allem einen Rückhalt in der einfachen Bevölkerung genießt.
Der Plantagenarbeiter René Contreras, der eine Fahrstunde südlich von Guayaquil lebt, unterstützte González ebenso wie der Taxifahrer Fernando Rodolfo Bastias. Er hatte sich von ihr erhofft, dass sie Verantwortung übernehme und gegen Vetternwirtschaft und Kriminalität vorgehe, erzählt er und fährt in die Polizeikontrolle am Ortsausgang der Küstenmetropole. Als er sie passiert hat, schnauft er erleichtert. »So ein Bußgeld hat mir schon öfter den Tag versaut.« Die »Uniformierten in Guayaquil« sieht er fraglos als Teil des Problems an.
Diese Stimme aus der Bevölkerung spiegelt eine tiefe Frustration wider, die auch Experten erkennen. Für den Soziologen Juan Cuvi wäre González die bessere Wahl gewesen. Er hält die äußerst abgehobene Elite des Landes für ein grundsätzliches Problem. »In Guayaquil lebt sie abgeschlossen in ihren Gated Communitys, und wer es kann, fliegt am Wochenende nach Miami«, kritisiert der 66-jährige Korruptionsexperte aus Cuenca. In der Großstadt im Süden Ecuadors ist es nachts anders als in Guayaquil noch möglich, vor die Tür zu gehen. Dafür engagiert sich auch eine kritische Zivilgesellschaft. In Cuvis Augen ein Lichtblick.
Aber die Führungsschicht kritisiert er: »Diese Leute sind so kurzsichtig, so egoistisch und unverantwortlich. Sie begreifen nicht, dass sie letztlich auch ihre eigenen Lebensperspektiven gefährden.« Aber eigene Interessen gingen in Ecuador schon immer vor die des Landes, und Gemeinwohl sei in Ecuador quasi ein Fremdwort, schimpft er. Als Mitglied der nationalen Antikorruptionskommission sieht er darin einen zentralen Grund, weshalb Ecuador derzeit auf einem schmalen Grat zwischen Narkostaat und gefährdeter Demokratie balanciert.
Jetzt bestimmt der amtierende Präsident wohl mindestens vier Jahre lang den politischen Kurs des Landes. Sein Umgang mit der Elite und der organisierten Kriminalität in den nächsten Monaten werden wahrscheinlich darüber entscheiden, ob Ecuador stabilisiert wird oder vollends ins Verderben stürzt.