nd-aktuell.de / 04.05.2025 / Politik / Seite 1

Psychotherapeutin: »Kein Kind in Gaza ist nicht traumatisiert«

Katrin Glatz Brubakk ist norwegische Psychotherapeutin und war zwei Mal für Ärzte ohne Grenzen im Gazastreifen im Einsatz

Interview: Matthias Monroy
Vertriebene palästinensische Kinder drängeln sich um Mahlzeiten in Khan Younis. Das Bild ist vom Dezember, als noch Hilfslieferungen den Gazastreifen erreichten.
Vertriebene palästinensische Kinder drängeln sich um Mahlzeiten in Khan Younis. Das Bild ist vom Dezember, als noch Hilfslieferungen den Gazastreifen erreichten.

Wie haben Sie die Situation erlebt bei Ihrem letzten Aufenthalt im Februar, auch im Vergleich zu dem im Oktober?

Wie soll man das erklären? Ich bin seit zehn Jahren in verschiedenen Kriegen und Krisengebieten unterwegs. Doch die Landschaft direkt hinter der Grenze zu Gaza ist unbeschreiblich – es sind nicht einmal Trümmerhaufen zu sehen. Alles ist pulverisiert, flach und mit diesem charakteristischen dunkelgrauen Betonstaub bedeckt. Keine Pflanzen, keine Bewegung im Wind – absolut nichts. Es wirkt völlig leblos. Erst wenn man sich Khan Younis nähert, begegnet man dem, was man aus anderen Kriegsgebieten oder von schweren Erdbeben kennt: zusammengestürzte Häuser und Trümmerhaufen. Was in Gaza besonders erschütternd ist, ist das Ausmaß der Zerstörung: Ein Großteil aller Gebäude, der Infrastruktur, Wasserleitungen, Schulen, Universitäten – alles zerstört. Es gibt wirklich keinen sicheren Ort in Gaza. Selbst in der sogenannten humanitären Zone wird bombardiert.

Hatten Sie selbst Todesangst?

Richtige Todesangst hatte ich nicht. Es war nah, erschreckend, aber nicht so unmittelbar, dass ich dachte: Jetzt sterbe ich. Sobald man den ersten Schrecken überwunden hat, kommen andere Gedanken: Wer ist jetzt tot? Welches Kind hat gerade seine Eltern oder Geschwister verloren?

Im Februar kam dann der Waffenstillstand...

Da atmeten alle spürbar auf. Endlich konnten die Menschen wieder schlafen, ohne fürchten zu müssen, über Nacht bombardiert zu werden. Meine Kolleg*innen konnten zur Arbeit gehen, ohne in ständiger Angst zu sein, dass ihre Patient*innen im Zelt von einer Bombe getroffen werden könnten. Das linderte den Stress erheblich. Doch während des Waffenstillstands kamen all die Gefühle hoch, für die während akuter Lebensgefahr kein Raum war – vor allem die Trauer. Über verlorene Häuser, die nicht nur durch Bomben zerstört wurden. In viele noch stehende Gebäude waren Soldaten eingedrungen und hatten alles darin verwüstet. Selbst wenn ein Haus äußerlich intakt schien, war im Inneren alles zerstört. Dazu kam die Trauer um verlorene Familienmitglieder, von denen manche noch unter Trümmern lagen und nicht beerdigt werden konnten. Je länger der Waffenstillstand anhielt, desto mehr keimte auch Hoffnung auf: Vielleicht könnten sie doch wieder ein Leben aufbauen, ihre Kinder zur Schule schicken und endlich aufatmen. Doch als der Krieg Mitte März wieder aufflammte, wurden all diese Hoffnungen zerschmettert.

Israel hat kurz nach dem 7. Oktober behauptet, dass sein Militär niemals ein Krankenhaus angreifen würde. Können Sie das bestätigen?

Nein. Das Nasser-Krankenhaus – ich kann nur darüber sprechen, weil ich es persönlich kenne und dort gewesen bin – wurde im Februar 2024 evakuiert, nachdem es teilweise bombardiert wurde und Soldat*innen ins Krankenhaus eingedrungen sind und geschossen haben. Am 23. März dieses Jahres traf eine Bombe die Notaufnahme. Diese Vorfälle sind gut dokumentiert, es gibt Bilder davon, und Israels Militär hat dies auch bestätigt.

Wie hat es das gerechtfertigt?

Angeblich war einer unserer Patienten ein Hamas-Kämpfer. Ich habe allerdings keine gesehen.

Halten Sie Kontakt zu Ihren Kolleg*innen?

Ja, die Stimmung in ihren Nachrichten ist sehr düster. Sie sind verzweifelt und leben in ständiger Angst, getötet zu werden. Was sie immer wieder sagen: »Ich möchte dich wiedersehen« – und dann fügen sie hinzu: »falls wir noch am Leben sind«. Das hört man ständig. Ich habe meine palästinensische Kollegin Sabah gefragt: »Wie schafft ihr es, jeden Tag zur Arbeit zu kommen?« Sie antwortete: »Katrin, wir haben nicht das Privileg, zusammenzubrechen. Denn wenn wir zusammenbrechen – wer holt dann Essen? Wer passt auf die Kinder auf?«

Aus Kriegen der USA in Pakistan oder Afghanistan ist bekannt, wie die Menschen auch durch Drohnen terrorisiert wurden. Wie ist das in Gaza?

Es gibt ein permanentes Brummen – mal leise im Hintergrund, mal so laut, dass keiner schlafen kann. Man weiß nie: Ist es nur eine Überwachungsdrohne oder eine mit Waffen? Selbst in den seltenen ruhigen Momenten sind die Menschen in Alarmbereitschaft.

Und wie steht es um die Versorgung in Gaza?

Es gibt kaum noch etwas zu essen, nur eine Mahlzeit am Tag ist inzwischen die Regel. Eine Kollegin schrieb mir gestern, sie habe etwas Vergammeltes im Müll gefunden und gegessen – jetzt geht es ihr verständlicherweise schlecht. Eine Packung Mehl von zehn Kilo kostet 100 Dollar. Woher soll man dieses Geld nehmen, wenn man kein Einkommen mehr hat? Alle von der UN unterstützten Bäckereien stehen still, weil kein Mehl vorhanden ist. Die Lage ist prekär.

Wie überleben die Menschen überhaupt noch?

Die allermeisten leben in notdürftigen Behausungen, die sie aus Planen und Teppichen gebaut haben – es sind weder richtige Hütten noch Zelte. Einige wenige, die noch Arbeit haben, darunter einige meiner Kolleg*innen, konnten sich ein Zimmer mieten. Aber das sind oft Räume in teilweise beschädigten Häusern, wo noch zwei, drei Zimmer bewohnbar sind – dort leben dann zehn Menschen auf 30 Quadratmetern. Ich habe Kolleg*innen, die nur die Kleidung besitzen, die sie am Leib tragen. Schuhe waren die ganze Zeit Mangelware und sehr teuer. Die meisten Kinder laufen barfuß herum. Täglich sieht man, wie Kinder mit alten Mehlsäcken umherziehen und im Müll nach Essen suchen oder Plastik, Stoffreste oder Pappe sammeln, um ein kleines Feuer zu machen.

Wie ist die Lage in den Krankenhäusern?

Wir hatten ausreichend Medikamente, da wir ein Apothekenzelt bzw. ein Medikamentenlager vorausschauend geplant hatten. Aber sterile Handschuhe waren schwer aufzutreiben. Die Sterilität bei komplizierten Operationen aufrechtzuerhalten, war dadurch äußerst schwierig. Das führt zu vermeidbaren Komplikationen und Infektionen. Auch OP-Ausrüstung fehlte.

Sie haben dort mit Kindern gearbeitet. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung?

Es sind Zweijährige, deren Beine amputiert werden mussten. Ein Zwölfjähriger, der seine gesamte Familie verloren hat. In der Brandabteilung liegen Kinder, die wie kleine Mumien aussehen – komplett in Bandagen eingewickelt, man sieht nur noch die Augen und die Nasenlöcher. Nahrung bekommen sie durch einen Strohhalm. Erst nach Wochen beginnt die Heilung soweit, dass man überhaupt erkennen kann, wie das Kind aussieht. Also das ist ein Niveau eines Traumas, das extrem ist – vor allen Dingen, dass es so lange dauert und dass man aus Gaza nicht flüchten kann. Es gibt wirklich nirgends einen Ort, der sicher ist. Auch nicht in den Krankenhäusern. Frauen schlafen mit Hijab und Schuhen, für den Fall, dass sie nachts vor Luftangriffen fliehen müssen.

Was macht das mit den Kindern?

Es gibt niemanden in Gaza, der nicht von diesem Horror betroffen ist. Ausnahmslos alle sind traumatisiert. Bereits 2021 hat Save the Children festgestellt, dass 90 Prozent der Kinder Trauma-Symptome zeigten. Und dann kam dieser Krieg noch dazu. Kein einziges Kind in Gaza ist jetzt nicht traumatisiert. Ich arbeite seit 25 Jahren als Traumatherapeutin, aber nirgendwo habe ich solch schwere Panikattacken erlebt wie bei den Kindern in Gaza.

Haben Sie ein Beispiel?

Da war ein fünfjähriger Junge, der schwer verletzt wurde und mitansehen musste, wie sein Vater neben ihm starb. Er sprach kaum mit uns. Seine Mutter durfte die Tür zu seinem Zimmer nicht öffnen, und wir durften sein amputiertes Bein nicht sehen. Er wollte nur schlafen und alles vergessen. Ich kam jeden Tag in sein Zimmer, damit er meine Stimme hört. Eines Tages winkte er seiner Mutter zu, damit sie näher kam, und sagte: »Die Dame soll rausgehen, ich mag sie nicht.« Darüber habe ich mich wirklich gefreut, denn es zeigte, dass er nicht gleichgültig geblieben ist.

Was bedeutet das alles für die Zukunft der Kinder?

Sie sind ständig auf der Hut, immer im Überlebensmodus. Kinder können nicht mit dem Rücken zu Türen sitzen, ihr ganzes Denken dreht sich darum: Wo ist der nächste Fluchtweg? Das stoppt ihre Entwicklung – sie lernen nicht sprechen, nicht spielen, nur überleben.

Ich kenne es von meiner Mutter, die, als der Krieg zu Ende war, sieben Jahre alt war und gehungert hat. Das hat sie ihr Leben lang bestimmt...

Mein Bruder kam 1974 als Vierjähriger aus Vietnam. Er versteckte Brotscheiben hinter Büchern, obwohl der Kühlschrank voll war. Es dauerte mindestens drei Jahre, bis er damit aufhörte. So wird es auch für die ganze Generation in Gaza sein.

Gibt es überhaupt noch Schulen oder Unterricht?

Sehr viele Schulen sind zerstört, und in den noch existierenden leben Menschen. Dennoch gibt es Erwachsene, die improvisieren und etwas Schulunterricht organisieren. Eine frühere Patientin von mir, eine Grundschullehrerin, unterrichtet jetzt in den Trümmern. Eine Etage liegt schräg, und durch diese Schräge muss man über Trümmer klettern – das ist nun ihr Klassenzimmer.

Was wünschen sich die Kinder?

Was ich unglaublich berührend finde, ist die Solidarität in den Antworten der Kinder. Kinder, die schwer verletzt wurden, möchten Ärzte oder Krankenschwestern werden, weil sie anderen helfen wollen. Oder sie träumen davon, Architekten zu werden, um Häuser für andere Kinder zu bauen. Oder Lehrerinnen, weil sie selbst die Schule vermissen. Aber aktuell haben sie nur einen Wunsch: keine Angst mehr haben zu müssen, zu sterben.

Und wie bewältigen Sie das selbst?

Indem ich zulasse, dass ich weine. Wenn mich das Leid dieser Kinder nicht mehr berühren würde, wäre ich nicht mehr professionell. Ich habe solche Einsätze jetzt 21 Mal gemacht: zweimal in Gaza, einmal im Westjordanland, in der Türkei nach dem Erdbeben, auf dem Rettungsschiff im Mittelmeer, in Ägypten, im Libanon, im Kongo und 13 Mal im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Aber diesmal ist es schwieriger als je zuvor. Ich wünschte trotzdem, ich wäre wieder in Gaza. Im August plane ich wieder dort zu arbeiten.

Sie initiieren auch konkrete Hilfsaktionen...

In Norwegen haben wir damals 7500 Paar Kinderschuhe für Moria gesammelt. Kurz vor meinem zweiten Gaza-Einsatz bat ich über soziale Medien um Babymützen, weil damals acht Babies erfroren waren. In zehn Tagen hatte ich 4000 gestrickte Mützen. Weil Menschen etwas tun wollen.

Was bedeutet das alles für die Weltgemeinschaft?

Jeder von uns hat eine Stimme und sollte diesen Horror, diese humanitäre Katastrophe in Gaza stoppen. Dort sind Menschen wie Sie und ich, die nur leben wollen und sonst nichts. Zwei Millionen Menschen brauchen jetzt auch psychologische Hilfe.