Es ist eine Geschichte von großer Nähe und allmählicher Entfernung. Von einer starken Verbindung und einer entschiedenen Abstoßung. Vielleicht nicht ungewöhnlich für eine Mutter-Sohn-Geschichte. Ungewöhnlich sind die konkreten Umstände: Fatma, die Mutter, ist aus der Türkei nach Deutschland gekommen, in Erwartung eines besseren Lebens für sich, für ihr Kind; Dinçer, der Sohn, ist in Deutschland geboren und zunächst einmal auf der Suche, und zwar nach seinem eigenen Platz in der Gesellschaft.
»Unser Deutschlandmärchen«, nach dem preisgekrönten Roman von Dinçer Güçyeter, hat der Regisseur Hakan Savaş Mican am Berliner Maxim-Gorki-Theater in Szene gesetzt. Nun ist der Abend im Rahmen des Theatertreffens zu sehen. Das Gorki ist unter seiner Intendantin Shermin Langhoff bekannt dafür geworden, Gegenperspektiven, oft (post-)migrantisch grundiert, zu den Geschichten der Mehrheitsgesellschaft aufzuzeigen.
In diesem Zeichen steht auch »Unser Deutschlandmärchen«. Sesede Terziyan und Taner Şahintürk spielen auf anrührende, aber keineswegs humorbefreite Weise Mutter und Sohn. Neben den beiden Ensemblemitgliedern spielt die Musik die dritte tragende Rolle. Große Gefühle, eine große Geschichte. Aber auch ein großer Theaterabend?
Die bewegende Geschichte, die wenig märchenhaft daherkommt, wird uns auf der Bühne nah an der Vorlage erzählt. Es ist auch handwerklich ein gelungener Abend, der nicht kaltlässt. Aber es handelt sich eben doch um ein nur grundsolides Stück Theaterkunst, das seines Inhalts wegen in Erinnerung bleibt, nicht um eine aufregende ästhetische Setzung, wie man sie beim Theatertreffen erwarten würde.
In dieser Hinsicht ist die Inszenierung mit Jan Friedrichs Magdeburger Arbeit »Blutbuch« (nach dem Roman von Kim de l’Horizon) vergleichbar, die ebenfalls zum Theatertreffen eingeladen worden war und am vergangenen Wochenende zweimal gezeigt wurde. Erst hat das Autofiktionale, die künstlerische Umkreisung des eigenen Selbst, die Literatur erobert. Nun zieht das Theater nach, als wäre die darstellende Kunst nur der verlängerte Arm des Buchmarkts.
Auch in »Blutbuch« wird uns eine Außenseiterperspektive aufgezeigt, die einer nonbinären Person nämlich. Es ist eine Großmuter-Mutter-Kind-Geschichte, die nun eine szenische Entsprechung gefunden hat. Aber das Theater stellt sich auch hier lediglich in den Dienst der Literatur, ohne die eigenen Stärken gegenüber der fremd-verwandten Gattung auszuspielen. Die Romane liefern die Kunst, die Bühne fühlt sich am einen wie am anderen Abend nur für das Atmosphärische zuständig. Im Fall von »Blutbuch« verliert sich die Inszenierung stellenweise sogar ins rein Illustrative. Schade.
Vorstellungen beim Theatertreffen: 10. und 11.5. (Die Inszenierung ist auch in voller Länge in der 3Sat-Mediathek zu sehen.)
www.berlinerfestspiele.de[1]