»Gesellschaft ist, wenn es wehtut« lautet der erste Satz im letzten Text, den Wolfgang Pohrt geschrieben hat. Damit bringt er 2014 sein gesamtes publizistisches Wirken seit Mitte der 70er Jahre auf den Punkt. Nur dass dem Publikum seine Texte mehr schmerzten als die Gesellschaft, in der es sich dann doch irgendwie erträglich eingerichtet hatte. Pohrts Texte störten[1], weil er sich an der Gemütlichkeit des Opportunismus störte. Das machte ihn als Analytiker und Essayisten ebenso berühmt, wie es ihn auch langfristig frustrierte, weil eine politisch ernst gemeinte Veränderung ausblieb, denn »das Kapital ist so einfach und stabil wie das Krokodil«, wie er 2011 in seinem vorletzten Buch »Kapitalismus forever« konstatierte.
Fast alle seine Bücher kamen in der Berliner Edition Tiamat heraus, wo auch – ohne jede Förderung – eine 13-bändige Werkausgabe seiner Schriften erschien, die so ähnlich aussieht wie die »blauen Bände« von Marx und Engels. Sie wurde kurz vor Pohrts Tod 2018 begonnen und 2023 abgeschlossen. Nun gibt es auch noch einen »Reader« von knapp 500 Seiten, der einen sperrigen Titel (»Wahn, Ideologie und Realitätsverlust«) hat, aber eine 1A-Einführung in Pohrts Werk präsentiert. Eine gute Ergänzung zur lesenswerten Pohrt-Biografie, die sein Verleger und größter Fan Klaus Bittermann 2022 vorlegte. Ist das vielleicht ein bisschen viel Pohrt? Aber kennen Sie den überhaupt? Lesen Sie ihn doch mal! Oder lesen Sie ihn wieder, denn wie die scheinbar unzerstörbare kapitalistische Produktionsweise bleiben auch die meisten seiner Überlegungen zeitlos.
Pohrt wurde heute vor 80 Jahren in der sächsischen Provinz geboren und zog dann mit seiner Mutter in den Schwarzwald. Seinen Vater lernte er nie kennen. In Freiburg brach er das Abitur ab, ging nach Westberlin und wurde Hilfsarbeiter, holte an der Abendschule sein Abitur nach und begann, Soziologie zu studieren, weil er für Psychologie zu schlechte Noten hatte. Das Fach langweilte ihn tödlich, denn »die Dozenten schreckten vor keiner Banalität zurück«. Er war es gewohnt, sich von Jerry-Cotton-Romanen unterhalten zu fühlen – bis er die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno entdeckte, die er durchlas wie einen Krimi: »Ich verstand alles und nichts.« Besonders die Fremdwörter musste er lernen, doch es war ihm ein Vergnügen, das Buch kam ihm vor »wie die Lösung eines interessanten Rätsels« und dann studierte er doch weiter. Er zog nach Frankfurt/Main, ging in den SDS, wirkte für die Revolution und promovierte über die Theorie des Gebrauchswerts bei Marx und wurde dann professioneller Ideologiekritiker, weil es mit der »Sozialistischen Weltrevolution« nicht voranging. Warum nicht? Das war noch so ein interessantes Rätsel.
2012 erklärte er dieses Projekt für »endgültig« gescheitert: »Wenn man mit dem Kopf gegen die Wand rennt, geht nur der Kopf kaputt, nicht die Wand.« Das wollten seine Anhänger ebensowenig hören wie das linksalternative Milieu seine Kritiken an der Friedensbewegung oder an der Palästina-Solidarität 30 Jahre früher. Damals verfuhr er nach der Devise: »Die Leute sagen mir, was sie denken, und ich sage ihnen, warum das falsch ist.« Doch das waren keine Belehrungen wie in den K-Gruppen oder in den Bioläden, das war ein völlig neuer »Sound«, wie Klaus Bittermann in seinem Nachwort zum Reader feststellt.
Wenn das »organisierte Nein«, wie sich Johannes Agnoli[2] ausdrückte, gesellschaftspolitisch so schwer zu machen ist, dann war das für Pohrt permanenter Skandal und Herausforderung, die Apologeten des Bestehenden anzugreifen – mit aggressiven, brillant formulierten Texten. »Hauptsache negativ nein«, wie die Einstürzenden Neubauten damals auf ihrem Debütalbum »Kollaps« sangen. So hätte auch einer der Sammelbände mit Pohrt-Texten heißen können, die mit solchen Titeln wie »Ausverkauf«, »Endstation« oder »Zeitgeist, Geisterzeit« erschienen.
»Negativ nein«: So unkorrumpierbar wie Pohrt den kitschigen Konformismus einer notorisch erfolglosen BRD-Linken nach 1968 sezierte, war er unter den radikalen Schreibern der 80er Jahre am meisten Punk, auch wenn er sich anders als Biller, Droste, Goetz, Diederichsen oder Drechsler für Pop überhaupt nicht interessierte. So wie Adorno als unerbittlicher Gesellschaftstheoretiker und negativer Dialektiker auch Prä-Punk gewesen war, zumindest von Greil Marcus 1989 in »Lipstick Traces« so gewürdigt wurde. Für Pohrt war Adorno »der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl«, wie einer seiner Aufsätze heißt, ein »Glücksfall« in einer Spezialposition an der Universität, die von seinen Nachfolgern nicht mehr erreicht wurde. Auch nicht von Pohrt, dem promovierten Soziologen, der 1980 enttäuscht den akademischen Betrieb verließ, weil er dachte, er könnte als freier Publizist ein größeres Publikum erreichen.
Anfänglich gelang ihm das auch sehr gut, denn das linksalternative Publikum schrie auf, als er die Friedensbewegung zur »deutschnationalen Erweckungsbewegung« erklärte, nachdem deren Protagonisten die Bevölkerung in »unser Volk«, das um jeden Preis überleben müsse, verwandelt hatten. Waren sie doch so stolz auf ihre Mobilisierungserfolge gegen die neuen Mittelstreckenwaffen und gegen den Bau von Atomkraftwerken. Von solchen Großdemos hatten die 68er nur geträumt. Für Pohrt aber wurde mit der »Lüge von der notwendigen schicksalhaften Verbundenheit der einzelnen im nationalen Zwangskollektiv« die aufklärerische Idee der Menschheit dementiert: einen »Verein freier Menschen« zu bilden. Auch die Verfeinerung des Alltagslebens mit besseren Speisen, Wohnungseinrichtungen und Umgangsformen, also das, was das linke bis linksliberale und später grüne Milieu[3] seit 1968 tatsächlich durchgesetzt hatte, war für ihn schon 1974 nicht Ausdruck von gelungener Emanzipation, sondern »Betrug am richtigen Leben«, das nur in einer anders eingerichteten Gesellschaft möglich wäre. Demgegenüber forderte er, »im Röntgenbild der kleinen Freuden des Alltags die tödliche Notwendigkeit zu erkennen, entweder die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse niederzureißen oder an ihnen zu scheitern«.
Was aber in diesem Milieu anscheinend immer geht, ist Projektion und Pathos, beispielsweise die Begeisterung für die Palästinenser im Nahost-Konflikt, getrieben von einer Sehnsucht nach »Entlastung für Auschwitz«, die Pohrt 1982 so zusammenfasste: »Die Unterdrückung und Verfolgung der Palästinenser durch Israel werden so genau beobachtet und so leidenschaftlich angeprangert, weil sie beweisen soll: es gibt keinen Unterschied« – zwischen den deutschen Verbrechen an den Juden und den Verbrechen, die andere Staaten begehen, insbesondere Israelis an Palästinensern.
Diese Sichtweise ist bis heute virulent, wenn der Gaza-Katastrophenkrieg der rechten Netanjahu-Regierung nach den Hamas-Massakern am 7. Oktober von vielen Linken als »Genozid« bezeichnet wird. Für Pohrt aber war klar: »An deutschen Vernichtungslagern, und nirgends sonst, findet der Begriff Genozid seine Bestimmung: als planmäßiger, systematisch betriebener, kontinuierlicher Mord an Millionen Menschen, mit welchem sich kein anderer Zweck und keine andere Absicht verbindet als bloß die der Vernichtung.«
Dem vorausgegangen war Ende der 70er Jahre seine Beschäftigung mit der Literatur von jüdischen KZ-Überlebenden wie Primo Levi, Elie Wiesel und Hermann Langbein, die davon erzählten, wie sie sich schuldig fühlten, überhaupt überlebt zu haben. Umso absurder schien Pohrt die Vorstellung, die bis heute von Literaturvereinen, über Kirchentage bis zur CDU und noch weiter rechts artikuliert wird, dass die deutsche Gesellschaft die NS-Vernichtungspolitik »bewältigt« [4]habe. Ganz so, als wären »zwei angezettelte Weltkriege (…) die besten Startbedingungen, wenn es um den ersten Platz unter den Weltfriedensrichtern und Weltfriedensstiftern geht«. Mit der Parole »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz« begründete Joschka Fischer 1999 als erster grüner Außenminister die erste deutsche Kriegsbeteiligung nach 1945, gegen das serbisch geführte Restjugoslawien. Diese Form von »Bewältigung« artikuliert sich auch in einer von links bis rechts stets angeführten »Verantwortung« gegenüber Israel, die Pohrt 1982 so akzentuierte: »Der Massenmord an den Juden verpflichte, so meint man, Deutschland dazu, Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde.«
Im Nahost-Konflikt verglich Pohrt die Palästinenser mit einem militanten Heimatvertriebenenverband[5] im Kampf um die Scholle, betrachtete aber auch die Israelis als einen solchen, wenn auch mit den besseren Waffen ausgestattet. Wäre es anders herum, würden die Palästinenser sich ähnlich verhalten wie die Israelis 1982 im Libanonkrieg, glaubte er: »Dass man vertreiben und verfolgen muss, will man nicht zu den Verfolgten und Vertriebenen zählen«, lautete seine resignative, negative Pointe.
Solche Überlegungen, wie auch seine Unterscheidung zwischen Antiimperalismus und Antiamerikanismus (mittlerweile völlig eingeebnet) oder seine Belustigung über Hausbesetzungen als »Rebellion der Heinzelmännchen« sorgten damals wie heute für Unmut im Moralbetrieb. Die Texte, in denen sie auftauchen, sind die großen Punk-Hits des Wolfgang Pohrt in den 80er Jahren, die in diesem Reader wie auf einem Best-of-Album versammelt sind.
Danach werden seine Texte ruhiger, versierter und auch wissenschaftlicher, seine Untersuchungen des autoritären Charakters der Deutschen nach 1989/90 [6]und der Anwendbarkeit der Racket-Theorie in Politik und Verbrechen haben etwas von ausgefuchsten Konzeptalben, die nicht mehr mit so starken Effekten arbeiteten. Als im Internet die Blogs aufkamen, entwickelte er das Selbstinterview zu einer ihm adäquaten Textform, allerdings printmedial in der Monatszeitschrift »Konkret« unter dem Titel »Pohrt antwortet«. Das wiederum erinnerte an Konzerte in kleineren Clubs mit einem Akustik-Set. Gegen Ende seiner Karriere servierte er ironische Hymnen auf den Kapitalismus[7] als letztlich siegreichen Endgegner, als er meinte, der Kommunismus sei »abgelaufen wie Badewasser, wenn man den Stöpsel zieht«, was tatsächlich etwas verloren wirkte.
Was soll man nun tun ohne viel Aussicht auf politischen Fortschritt? Man sitzt zu Hause und liest gute Bücher. So fängt alles an.
Wolfgang Pohrt: Wahn, Ideologie und Realitätsverlust. Metamorphosen des deutschen Massenbewusstseins. Ein Reader. Edition Tiamat, 512 S. br., 26 €.
Lesung am Montag, 5.5. in Berlin, Volksbühne, 20 Uhr: Sophie Rois liest zum 80. Geburtstag Pohrts aus dessen Texten
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190999.besser-denken-mit-dem-kopf-gegen-die-wand.html