Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen sind das älteste Kurzfilmfestival der Welt. Sie gingen am Sonntag zu Ende. Mit Madeleine Bernstorff und Susannah Pollheim als neue Festivaldirektorinnen nach dem Abschied von Lars Henrik Gass. In ihrer Rede zur Eröffnung der 71. Ausgabe des Festivals in der Oberhausener Lichtburg am vergangenen Dienstag streifte Bernstorff den Fortgang des Vorgängers und die politischen Querelen infolge einer antiisraelisch motivierten Festival-Boykottkampagne nur am Rande. Wichtiger erschien ihr, Sehgewohnheiten reflexiv zu befragen und dabei gezielt nach Leerstellen zu suchen. Als junge Kinobegeisterte, die zwischen Filmgeschichte, Aktivismus und künstlerischer Praxis changierte, bemerkte sie beispielsweise das Fehlen von Frauen in filmischen Dokumenten zu Stanley Milgrams berühmtem Experiment über den autoritären Charakter. Im frauenleeren Kinosaal thematisierte sie dies damals noch mit hochrotem Kopf – ein Detail, das im schützenden Dunkel nicht weiter aufgefallen wäre.
Das war wie ein roter Faden: Die Frage nach den psychologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für Konformität und Opportunismus standen im Zentrum des offiziellen Auftakts am Mittwochmorgen. Unter dem Titel »Wer wird Faschist?« diskutierten die Sozial- und Kognitionswissenschaftlerin Emilie A. Caspar (Gent), die Psychologin Agnieszka Golec de Zavala (London) sowie die Künstler Artur Żmijewski (Warschau) und Rod Dickinson (Bristol) auf dem Podium. Ausgangspunkt war der Essay »Who Goes Nazi?« der US-amerikanischen Journalistin Dorothy Thompson[1] aus dem Jahr 1941, in dem sie argumentierte, dass die Neigung zum Faschismus weniger von politischen Überzeugungen denn vielmehr von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen abhänge. Die von Galit Eilat moderierte Diskussion verband psychologische und neurowissenschaftliche Perspektiven mit künstlerischer Reflexion – und legte offen, wie erschreckend zeitlos Thompsons These ist.
Auf der Leinwand mangelte es nicht an cineastischen Darstellungen antiautoritärer Revolten. In Cristina Perinciolis Kurzfilm »Für Frauen – 1. Kapitel« von 1971, der noch am Eröffnungsabend zu sehen war, organisieren Verkäuferinnen aus dem Märkischen Viertel in Westberlin ihren ersten Arbeitskampf. Auf patriarchale Chefs und niedrige Löhne reagieren sie mit Verweigerung: Druck von unten. Damit herrscht Chaos im Warenregal, zwischen Waschmittelkartons und Reklametafeln geht der Besitzer gnadenlos in die Knie. »Es gibt keine Sonne, wenn wir sie nicht sehen. Es gibt keine Wahrheit, wenn wir sie nicht suchen«, singen Ton Steine Scherben im Off; währenddessen schlendern vier Frauen ohne Arbeit auf offener Straße durch die Stadt: »Alles verändert sich, wenn du es veränderst.«
Freiheit ist auch in den Filmen des 1940 in Görlitz geboren Filmemachers Dietrich Schubert nicht ohne politischen Einsatz zu haben. Sein rund halbstündiges Protest-Porträt »Wir sind stärker geworden« von 1968 nimmt kommentarlos Anleihen beim Essayfilm und bleibt doch konkret. »Treibt Bonn den Notstand aus!« ist nur eine der Parolen auf den Transparenten der Studierenden, welche die Protestmärsche gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze organisierten. Der Kameramann ist kein neutraler Beobachter, sondern Teil des Demonstrationszugs. Seine offensive Parteinahme für jene, die im Film vorkommen, war dem bundesdeutschen Verfassungsschutz früh ein Dorn im Auge. Im 18-Minüter »Ein Film über den dichter werdenden Nebel im deutschen Winterwald« von 1981 klärt Schubert über allfällige Verstrickungen auf: Während einer Kamerafahrt verliest er Details aus der Akte des Journalisten Günter Wallraff, in der auch sein eigener Name Erwähnung findet.
Schubert nimmt dabei Bezug auf die ihm entgegengebrachten Unterstellungen, gleicht sie mit den Tatsachen ab und zeigt damit auf, wie das Bild vom »Verfassungsfeind« konstruiert wird. Im Vorspann zum zweiten Teil der Schubert-Retrospektive, die in Anwesenheit des Filmemachers stattfand, war Wallraff ein weiteres Mal zu sehen – als politischer Aktivist, der 1974 auf einem Platz in der griechischen Hauptstadt Flugblätter gegen die Militärjunta verteilt: »Wallraff in Athen« dauert knapp eineinhalb Minuten und wurde noch am Tag der Aufnahme in Deutschland gezeigt.
Die großen Geschichten in verknappter Form kamen in diesem Jahr vor allem aus der DDR. Über die Möglichkeit ihrer Verfertigung entschied dazumal eine Staatliche Plankommission; in welche Richtung man zu denken hatte, war vorgeschrieben – und doch galten für Hochschulfilme weniger restriktive Kriterien als für den Defa-Kinofilm. Felix Mende, Kurator der diesjährigen Filmschau »Umwege zum Nachbarn – Der Film der DDR in Oberhausen«, bestand im Gespräch auf diesem Unterschied – und präsentierte mit zehn Programmblöcken, darunter ein eigenständiges Kinder- und Jugendprogramm, eine Vielzahl an unkonventionellen DDR-Kurzfilmen. Das in Ostdeutschland zentralisierte Filmwesen ersparte ihm viel an Rechercheaufwand, im Oberhausener Archiv hingegen seien nur die Preisträgerfilme vergangener Festivals auffindbar gewesen.
Für die Programmierung zog er Werke in Betracht, die von der DDR für die Kurzfilmtage nicht freigegeben worden waren – ebenso wie solche, die der Interministerielle Ausschuss für Ost-West-Filmfragen der BRD abgelehnt hatte. »Auf dem Papier hieß das Kriterium Verfassungsfeindlichkeit«, sagt Mende, der mit der unveränderten Wiederaufführung von »Martins Tagebuch« (1955) eine Regiearbeit von Heiner Carow rehabilitiert. Der Kurzfilm über einen von seinen Eltern gedrillten Schuljungen, der sich einem Lehrer anvertraut, durchlief im Vorfeld der Aufführung in Oberhausen eine mehrmonatige Zensurodyssee, der Grund: dass in den Schulen der DDR pädagogische Arbeit geleistet wurde, wollte die BRD ihrem Nachbarland absprechen.
Mit den Filmblöcken »After Work« und »Incompatible Lives« ist es Mende gelungen, Arbeitsverweigerer*innen und andere Existenzen abseits der Produktionsnorm inmitten des vom sozialistischen Realismus dominierten Bildrepertoires aufzuspüren; Tabus wie Suizid, Psychiatrie und Pillen haben darin ihren legitimen Platz. »Aber wenn man so leben will wie ich« (1988) handelt von Punk Stummel, der sein Kind schützend in den Armen hält und nach Jahren im Jugendwerkhof einen Ausreiseantrag stellt. In »Feierabend«[2] (1964) begleitet Karl Gass die Arbeiter*innen des Erdölverarbeitungswerks in Schwedt nach der Schicht. Mit »Martha« wagte auch Jürgen Böttcher[3] 1979 einen entscheidenden Schritt in eine andere Richtung: Die Trümmerfrau Martha stutzt er im gleichnamigen Film auf ein menschliches Maß zurück. Im VEB Kombinat Tiefbau in Berlin-Rummelsburg fischt sie anfangs noch Metallteile aus dem Bauschutt am Förderband – und entscheidet sich dafür, das irgendwann nicht mehr zu tun. Mit den Worten »Ich fühl mich sauwohl, zuhause« beginnt für die 68-jährige der Anfang vom Ende der Lohnarbeit. In Oberhausen stehen die dazugehörigen Relikte bereits im Museum – am Areal des soziokulturellen Zentrums Altenberg, das früher eine Zinkfabrik war, befindet sich ein Kino.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191018.kurzfilmtage-oberhausen-der-politische-einsatz.html