Deutschland will einfach nicht untergehen. Ist immer noch zu sehen, in der Ferne schaukelnd, in einem Koffer verpackt, während die Wellen des Hudson Rivers an ihm rupfen. Macht Sie dieses Bild optimistisch? Oder müsste Deutschland doch erst versinken. Vom Schrott befreit, durch die Wurstmaschine gedreht, damit wir es noch einmal versuchen können. Keine Rekonstruktion. Sondern ein Neuanfang. Das wäre doch schön.
Der 2. Mai, der Tag, an dem der Verfassungsschutz eine im Bundestag sitzende Partei als gesichert rechtsextrem einstuft, erinnert uns daran, wie Optimismus geht. Und ein Film zeigt uns das Wenige, was es dazu braucht: einen Hartschalenkoffer, einen tragbaren Kassettenrecorder, einen selbstgestrickten Deutschlandschal und – ja gut, wenn’s irgendwie geht, eine ziemlich exklusive Horde an Journalisten, die freudig johlt, als der Koffer voller Deutschland-Souvenirs über die Reling fliegt. »Deutschland versenken« heißt eine Aktion des 2010 verstorbenen Performance-Künstlers Christoph Schlingensief, welche zur Eröffnung des Berliner Gallery Weekends als Videoinstallation Einzug in die Neue Nationalgalerie hielt. Wobei »Einzug halten« hier gänzlich ohne Euphemismus auskommen soll.
Zum Art Talk anlässlich der Schenkung des Werks – es wurde von Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz gestiftet – hatte sich im Foyer der Neuen Nationalgalerie die Fanblase des Künstlers versammelt. Klaus Biesenbach, Direktor der Neuen Nationalgalerie, und Matthias Lilienthal, künftiger Intendant der Berliner Volksbühne und langjähriger Produzent und Dramaturg von Schlingensiefs Performances, droppten in ihren Erinnerungen an den Künstler ohne Luft zu holen Superlative wie »überraschend«, »innovativ«, »disruptiv« ... Biesenbach setzte gleich zu Beginn die Wegmarke, als er sagte, dieser Künstler sei einfach: »Larger than Life.« Und damit vielen schlicht aus dem Herzen sprach.
In der Tat war Christoph Schlingensief ein Künstler, der es verstanden hatte, die Dynamiken unseres komplizierten Miteinanders zur Explosion zu verhelfen, um durch die Rauchschwaden klarer zu sehen. Im Jahr 2000 rief er sechs Millionen Arbeitslose zum Schwimmen im Wolfgangsee auf mit der Absicht, eine Überflutung auszulösen, welche den Urlaubssitz von Kanzler Helmut Kohl und dessen Arbeitsmarktpolitik hätte treffen sollen. Am Ende kamen rund hundert, der Wasserpegel stieg kaum, aber das Bild der »(selbst ernannten) Randständigen« war in der Welt.
Was habe Christoph Schlingensief angetrieben, fragt Klaus Biesenbach. »Die Wahrheit?« – »Große Bilder«, entgegnet Matthias Lilienthal. Er habe zeitlebens größere Bilder schaffen wollen als Deutschlands Held in Hollywood Wim Wenders. Auch Schlingensiefs »Deutschlandsuche ’99«, in dessen dramaturgischer Abfolge »Deutschland versenken« einzuordnen ist, war ein mediales Großprojekt, welches der nicht gerade handlichen Frage nachgehen wollte, was es bedeute, im 21. Jahrhundert ein Deutscher zu sein. Die vierteilige Performance-Reihe startete mit der Autorallye »Wagner lebt – Sex im Ring« durch zehn deutschsprachige Städte, war als »Erster und zweiter internationaler Kameradschaftsabend« am Hamburger Schauspielhaus und der Berliner Volksbühne zu Gast und endete als Wagnerrallye in der namibischen Wüste.
Zwischengeschaltet war am 9. November des Jahres 1999, dem geschichtsträchtigen Datum des Mauerfalls und der »Reichspogromnacht«, die Performance »Deutschland versenken« in New York, welche auf Einladung des Museums of Modern Art zustande gekommen war, wo Biesenbach zu der Zeit Chefkurator war. Das Video der Aktion, welches nun im Kontext einer größeren Rauminstallation zur »Deutschlandsuche« in der Neuen Nationalgalerie zu sehen ist, zeigt Schlingensief in der Kleidung eines Rabbiners auf einem Schiff stehend und in diverse Kameras sprechend. Ob er den Koffer einmal öffnen könne, fragt eine Journalistin. – Nein, das gehe nicht. – Aber was denn drin sei? – Ein Bierkrug, eine Damenbinde, das »Bitte nicht stören«-Türschild eines Chemnitzer Hotels … »Wenn Sie auf den Koffer draufschauen, haben Sie Deutschland im Kopf.«
Insbesondere die begleitenden Fernsehinterviews in der Ausstellung zeigen, wie hilflos die Presse damals noch war – und wie kühn Schlingensief reagierte. Warum er als orthodoxer Rabbiner angezogen sei, wurde er zum Beispiel gefragt. Weil er das Nomadische suche, denn an diesem Deutschland könne man ja kaum noch teilnehmen, wobei er gleichzeitig natürlich eine Täuschung sei – jedoch nicht täusche, denn dafür habe er schlicht die falschen Schuhe an.
So ging es hin und her, im Sekundentakt wechselnd zwischen Anliegen und Unterwanderung, Realität und Fiktion. Ein weltumarmendes Spiel, das Tatsachen schuf, die sich in eindrücklichen Bildern entluden. »Diese Bilder«, sagt Schlingensief im Interview, »schenke ich mir.« Und damit schenkte er sie auch dir und mir. Er ging immer von sich aus, um Anliegen zu thematisieren, die alle betrafen – den Stress mit dem Kapitalismus, den Ärger mit Mitmenschen, die Angst vor dem Tod. Daraus gebar er ikonische Momente, welche sich nie nur hinter den hochgezogenen Mauern des Kunstbetriebs abspielten, sondern immer auch auf Straßen, Plätzen, an öffentlichen Orten, sprich: unter uns, mitten in der Gesellschaft.
Schlingensief sei, so Biesenbach, nicht nur ein öffentlicher Intellektueller gewesen, sondern auch – wie Joseph Beuys – ein öffentlicher Künstler, der seine Urlaube, wie Lilienthal hinzufügte, am liebsten auf Campingplätzen verbrachte. Sein Denken war rasant und anspruchsvoll, seine Anliegen für alle verständlich: Er wolle verstehen, warum er auf Erden sei, sagte Schlingensief auf dem Schiff auf dem Hudson River stehend. Und klar: Wer will das nicht?
Als ewig Suchender mit unschlagbarem Humor verband Schlingensief somit Aufruhr und Integrität. Er war die moderne Version eines mittelalterlichen Tricksters, der durch sein inopportunes Tun Schwung in die Gesellschaft brachte, ohne den jegliches Miteinander stagniert. Für Schlingensief selbst, so Biesenbach, ging die Welt dabei jeden Tag unter. Und jeden Tag richtete seine Kunst sie wieder auf. Er war ein »utopischer Charakter« (Biesenbach), der uns zeigen wollte, wie Kulturoptimismus geht.
Was also wäre, wenn …? Um diese Frage kommt man in der Rauminstallation »Deutschlandsuche ’99«, die von Klaus Biesenbach und Lisa Botti kuratiert wurde und eingebettet ist in die aktuelle Sammlungspräsentation »Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft. Sammlung der Nationalgalerie 1945–2000«, nicht drumherum. Was wäre, wenn es heute einen Künstler wie Schlingensief gäbe, was wäre, wenn er heute noch lebte?
»Wir sind im Kapitalismus, aber wir denken woanders«, hatte Christoph Schlingensief auf dem Hudson River von New York gerufen. Zwischen damals und heute liegen Jahrzehnte. Was politisch einstmals dämmerte, steht heute glasklar da. Und trotzdem lohnt sich dieser Satz zu memorieren: Die Zeiten, in denen wir leben, mögen pessimistisch ausschauen. Aber denken sollten wir optimistisch.
»Christoph Schlingensief. Deutschlandsuche ’99«, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50,
10785 Berlin.