nd-aktuell.de / 06.05.2025 / Kultur / Seite 1

»Träume«: Nur eine Illusion

Der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud gewann für seinen Film »Träume« dieses Jahr den Goldenen Bären der Berlinale

Marit Hofmann
Bis über beide Ohren verliebt: Ella Øverbye als Johanne
Bis über beide Ohren verliebt: Ella Øverbye als Johanne

»Schreibt mehr und lest mehr, denn das erweitert den Geist, und das tut uns allen gut.« So ein Statement erwartet man eher nicht in der Dankesrede eines Regisseurs, der auf der Berlinale gerade den Goldenen Bären eingeheimst hat.

In seiner norwegischen Heimat ist Dag Johan Haugerud nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Schriftsteller bekannt, und in seiner wortreichen Trilogie »Oslo Stories[1]«, deren innerhalb von nur zehn Monaten abgedrehten Teile nun im Abstand weniger Wochen in die deutschen Kinos kommen, scheint er beide Künste zu verbinden. Ganz besonders gilt das für den goldbärenstarken zweiten Teil »Träume«.

Während in allen drei »Oslo Stories« Menschen von Gedanken aus Büchern inspiriert werden, packt es die junge Protagonistin Johanne nicht nur, als ihr ein erotischer Roman in die Hände fällt, der sie in einen erwartungsfrohen Zustand versetzt – sie wird auch selbst zur Autorin. Und das übrige (hauptsächlich weibliche) Filmpersonal wird zu ihrer Leserin.

Die weiblichen Verwandten füllen die Lektüre mit eigenen Erfahrungen und Vermarktungsplänen, entfernen sich aber von Johannes Gefühlswelt.

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Als die Teenagerin nach der anregenden Lektüre in ihrer neuen Französischlehrerin Johanna das ersehnte Objekt der Begierde findet, sie heimlich anschmachtet und sich in ihr Leben schleicht, um nicht zu sagen: verstrickt, endet das in einer Enttäuschung, die die 17-Jährige im Aufschreiben des Erlebten oder vielleicht auch nur Erträumten zu kompensieren sucht. Ihre Großmutter und Mutter bekommen nacheinander die Erlaubnis, den Text zu lesen, und die Zuschauerin liest das, was Johanne im Voice-over – mit Aussparungen an entscheidenden Stellen – erzählt, aus der Perspektive der jeweiligen Rezipientin mit.

Die Kamera schwärmt mit der rosaroten Brille eines verliebten Mädchens für das kuschelige, warme und einladende Interieur von Johannas Wohnung. Die Bilder entsprechen weniger der Wahrheit, die im Dunkeln bleibt, als der jeweiligen subjektiven Auslegung. Was die Zuschauerin als atmosphärische Filmmusik einordnet (die generell an Miles Davis’ Soundtrack zu Louis Malles »Fahrstuhl zum Schafott« gemahnt), hört an einer Stelle abrupt auf, weil die Mutter den Plattenspieler ausstellt. Die erzeugte Stimmung war nur eine Illusion, ganz ähnlich jener, der die bis über beide Ohren Verliebte erlegen ist.

Die Großmutter, eine professionelle Lyrikerin, ist gepackt von der literarischen Kraft der Erzählung und will die begabte Enkelin an ihre Agentin vermitteln. Die Mutter sorgt sich dagegen zunächst um ihre möglicherweise einem Machtmissbrauch zum Opfer gefallene Tochter, trauert den intensiven Gefühlen ihrer eigenen Jugend nach und mutiert zur stolzen Managerin eines Wunderkindes. Die Generationen kommen in diesem komplexesten und selbstreflexivsten Teil der Trilogie, ausgehend von Johannes Skript, ins Gespräch und verwickeln sich in Diskussionen über feministische Haltung und konservative Sehnsüchte, verpasste Chancen und neue Perspektiven.

So ergeht es auch Haugerud mit Literatur. »Ich wollte diese Filme schreiben, weil es genau diese Themen sind, mit denen ich selbst ringe. Es sind Dinge, über die ich nachdenke, die mich beschäftigen, die ich gerade lese vielleicht. Ich lese sehr viel. Wenn Sie ›Träume‹ sehen, werden sie feststellen, dass es zumindest in Teilen genau darum geht.« Er münze das Gelesene auf die eigene Gedankenwelt um.

Die weiblichen Verwandten füllen die Lektüre mit eigenen Erfahrungen und Vermarktungsplänen, entfernen sich aber von Johannes Gefühlswelt. Während seine Protagonistin es ablehnt, ihr Manuskript in die Schublade »queere Coming-of-age-Geschichte« einzusortieren, wird der schwule Regisseur bislang kaum als solcher wahrgenommen, weil Haugerud mit entsprechenden Erwartungen bricht. So wenig es in seinen Filmen voller queerer Ideen um Homophobie geht, so wenig ist Rassismus ein Thema, nur weil die von Johanne angehimmelte Lehrerin nicht weiß ist.

Die intensiven Dialoge des jungen und älteren Personals erinnern an das Œuvre Éric Rohmers. Während dieser jedoch seine Figuren seziert und sie sich geradezu schmerzhaft entblößen lässt, legt Humanist Haugerud mehr Empathie und Glauben an die Menschheit in den Austausch, lässt aber durchaus Platz für Humor. Johanne gelingt es schließlich, sich von anderen Interpretationen abzugrenzen und das Geschriebene hinter sich zu lassen, um frei zu sein für neue Erfahrungen.

Nicht zuletzt singt Haugerud mit seiner Trilogie ein Loblied auf die verschiedenen Kunstformen. Mit einer eingebetteten Performance führt »Träume« in ungeahnte Höhen.

»Oslo Stories: Träume«, Norwegen 2024. Regie und Buch: Dag Johan Haugerud. Mit: Ella Øverbye, Selome Emnetu, Ane Dahl Torp, Anne Marit Jacobsen. 119 Min. Kinostart: 8. Mai.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190596.oslo-stories-liebe-im-kino-das-leben-ist-kurz-genug.html?sstr=marit