nd-aktuell.de / 06.05.2025 / Kultur / Seite 1

Gastronomie: Maximale Präsenz, minimale Sichtbarkeit

Im Restaurantbetrieb herrscht noch echte Solidarität unter den Bediensteten - manchmal jedenfalls

Olga Hohmann
Man sieht keine Hände, aber sie sind trotzdem überall.
Man sieht keine Hände, aber sie sind trotzdem überall.

Wenn eine Glocke klingelt, zucke ich zusammen. Das ist ein Atavismus aus meiner Zeit als Kellnerin. Wenn die Glocke klingelt, springt man zu dem Durchbruch in der Wand, durch den die Küche das Essen bereitstellt. Dieser Moment ist ein besonderer: Es ist ein Moment der Kommunikation, fast einer der Diplomatie. Die Küche kommuniziert nicht mit Worten, und durch den Spalt kann man einander nicht anschauen. Aber auf der anderen Seite wird dennoch wahrgenommen, welche Hände es sind, die den Teller nehmen, wer am schnellsten reagiert auf das einfache Zeichen, das Klingeln der Glocke.

Man greift also den Teller, halb gebückt und ohne Worte, eine Kommunikation im Stillen. Ein Uhrwerk, dessen Getriebe an keiner Stelle haken darf. Den Gästen merkt man an, ob sie eine Idee davon haben, wie dieses Uhrwerk, der Ameisenhaufen, aufgebaut ist – in einer Struktur der Abhängigkeit voneinander nämlich. Wenn ein Teilchen im Getriebe lose ist, fehlt oder hakt, spürt man das sofort. Mit der Küche kommuniziert man also wortlos, aber pragmatisch, während man mit den Gästen repräsentativ kommuniziert.

Nur ein einziges Mal schüttete ich ein ganzes Chicken Curry direkt aus dem Zwischenraum zwischen Küche und Repräsentationsraum auf mich selbst. Die Spuren des Currys sind noch immer auf den Schuhen zu sehen, die ich damals trug.

Wenn die Küche mir etwas Gutes tun wollte – weil ich ein funktionales »Rädchen im Getriebe« war –, bedankten sie sich in ihrer Sprache, nämlich kulinarisch. Es war bekannt, dass ich gern aß, von süß bis salzig und vor allem scharf. Seltsame Teile eines Tierkörpers, die nur selten verspeist werden, so zum Beispiel Lammköpfe, Hühnerfüße oder Innereien.

Manchmal klingelte also die Glocke, und wenn man dann in Richtung des Fensters stürzte, stand dort kein Gericht, sondern man wurde, unerwarteterweise, in die Küche gerufen. Dann stand dort ein kleiner Teller, mit einem neuen Dessert, das gerade ausprobiert worden war – oder mit einem Gericht, das irgendeinen marginalen ästhetischen Makel aufwies (vielleicht einen, der aus Freundlichkeit mir gegenüber hergestellt wurde) und deshalb »leider nicht serviert werden konnte«.

Der Teller war deshalb klein, damit der Inhalt, von mir, schnell verzehrt werden konnte – bevor ich dann, unauffällig, zurück in den repräsentativen Bereich des Getriebes springen würde. Die Küche bedankte sich für meine Arbeit mit diesen kleinen verbotenen Speisen, verbotenen Früchten, was ich dann wiederum mit lauten Genusslauten kommentierte. Von Anfang an war unser Verhältnis eines, in dem Zuneigung und Wertschätzung durch genussvolles Essen ausgedrückt wurde. Meine Kollegin, die Küchenchefin, erzählte mir Jahre später, dass das ganze Team anfangs skeptisch mir gegenüber gewesen sei – man habe mich für ein verwöhntes Prinzesschen gehalten. Erst als ich nach der Schicht um zwei Uhr nachts jedes Mal noch riesige Portionen verschlang, fing das Team an, mir zu vertrauen. Viel – und scharf – essen zu können, war für meine Kolleginnen eine moralische Kategorie. Ich hatte mich buchstäblich in die Herzen meiner Kolleginnen gefressen.

Zu den Resten der Sterneküche und der zu Gerichten verarbeiteten »Abfälle« (wie Köpfe, Füße oder Innereien) bestellten wir häufig Risa Chicken, Halbes Hähnchen, Chicken Wings und Nuggets – und Bubble Tea.

Wenn die Küche ihre Arbeit beendet hatte, schloss sie die Klappe. Diese konnte nur von einer Seite, der Küchenseite, geöffnet oder geschlossen werden – the message was clear: Klappe zu. Küche zu. Affe tot.

Immer wieder sind es also die Hände – die sichtbaren, die unsichtbaren.

Ich denke an die Strafmethode aus dem Mittelalter: Dieben wurde nach erneutem Diebstahl öffentlich eine Hand abgeschlagen, die dann, langsam mumifizierend, öffentlich ausgestellt blieb.

Ich lerne: Beim Ladendiebstahl agiert man am besten so sichtbar wie möglich. Man trägt die Tiefkühlpizzen einfach an der Kasse vorbei. Dabei muss man, vor allem vor sich selbst, davon ausgehen, dass einem die gestohlenen Produkte bereits gehören. Manchmal befürchte ich, dass es wohl einfacher ist zu stehlen, wenn man weiß, dass man sich Produkt auch hätte kaufen können.

Wenn eine Glocke läutet, im Restaurant, zucke ich noch immer zusammen. Ob die anderen Gäste am Tisch Empathie empfinden für die »andere Seite«, ob sie schon einmal Teil dieses Ameisenhaufens waren, ob sie die »andere Seite« antizipieren können, spürt man sofort.

Einmal werde ich am Arm operiert – mein ganzer Körper steht unter Narkose – dennoch bin ich bei Bewusstsein. Von Anfang an war da diese Fliege im Operationszimmer. Bis zum Ende der Operation hatte man sie nicht gefangen. Ich erinnere mich noch immer an ihr Summen, es hielt mich wach. Einschlafen durfte ich ohnehin nicht.

»Minimale Anstrengung, maximale Performance«, sagt M. zum Auftritt der Fliege. Das absolute Gegenteil zum Auftritt des Servicepersonals im Restaurant.

Einmal, in der Oper, erkenne ich schon im ersten Akt die Fliege über dem Kopf der Sopranistin. Bis zum Tod der langsam an Schwindsucht sterbenden Traviata sehe ich nichts als diese Fliege über ihrem Kopf, wie ein voreiliges Zeichen der Verwesung. Fast meine ich, dass ihr Summen den Gesang übertönt.