»Ab heute regiert die Hoffnung!«, titelte die »Bild«-Zeitung am Dienstag, um siegesgewiss schon vorab ihren Lieblingskanzler auszurufen. Doch als am Dienstagvormittag die Stimmen des geheimen Bundestagsvotums über die Wahl des neuen Bundeskanzlers ausgezählt waren, fehlte dem Kandidaten Friedrich Merz die nötige Mehrheit[1]. 328 von 630 Stimmen haben CDU, CSU und SPD im Parlament, mindestens 316 hätte Merz gebraucht – bekommen hat er 310, bei 307 Gegenstimmen.
Eine Katastrophe, hieß es zutreffend aus dem Umfeld des CDU-Vorsitzenden, denn in der Tat ist das weit mehr als ein Betriebsunfall. Zum einen, weil noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik eine Kanzlerwahl schiefgegangen ist. Zum anderen und vor allem aber, weil 18 fehlende Stimmen keine Kleinigkeit sind. Wenn das Ergebnis der Bundestagswahl ein Weckruf war, wie Merz jüngst wohl vor allem mit Blick auf AfD und Linke anmerkte, dann war die Abstimmung vom Dienstagvormittag ein Donnerschlag, der ihm zeigt, wo der Hammer hängt. Dieses Abweichlerpotenzial wird die Arbeit der neuen Koalition[2] als ständige Drohung begleiten, auch wenn Merz im zweiten Wahlgang am Dienstagnachmittag die nötige Mehrheit erreichte.
Dass der von Union und SPD ausgehandelte Koalitionsvertrag und ihre Personalentscheidungen jede Menge Unzufriedenheit hinterlassen, liegt auf der Hand. Zu kurz Gekommene bei der Verteilung von Posten[3] gibt es immer; vor allem aber ist klar, dass sich die Union auf breiter Front gegen die geschwächten Sozialdemokraten durchgesetzt haben, auch wenn die sich die verfahrene Lage schönreden. Aber was gibt es schönzureden, wenn Merz beispielsweise unwidersprochen feststellen kann, dass er mit der SPD eine Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik verabredet hat, die weit über das hinausgehe, was er Ende Januar mithilfe von AfD-Stimmen durchsetzen wollte?
So stehen gleich zwei Drohungen im Raum, wenn die neue Koalition an den Start geht. Es gibt in der Union Unzufriedene, denen die neue Regierung zu liberal ist; und es gibt in der SPD nicht wenige, denen das Regierungsprogramm zu unsozial ist[4]. Und auf der anderen Seite steht Merz’ Probelauf vom Januar: Er könnte notfalls auch anders, mit der AfD, die sich fortwährend anbietet.
Als Lobbyist seiner Klasse fordert Merz mehr Respekt für Besserverdienende.
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Dass Merz nur auf Umwegen an die Schalthebel der politischen Macht gelangt, ist er längst gewöhnt. Schon Anfang des Jahrtausends, als CDU-Chef Schäuble wegen seiner Verstrickung in eine Parteispendenaffäre zurückgetreten war, sah sich Merz kurz vorm Ziel, wurde sogar Fraktionschef der Union im Bundestag, verlor dann aber den zähen Machtkampf gegen Angela Merkel. Merkel hielt ihn wie zuvor schon Helmut Kohl von der Regierung fern. Merz ging in die Geldwirtschaft, verdiente als Wirtschaftsanwalt und in anderen Jobs Millionen und leistet sich als Statussymbol ein Privatflugzeug. Als Lobbyist seiner Klasse fordert er mehr Respekt für Besserverdienende; seine Ansichten hat er unter anderem in dem Buch »Mehr Kapitalismus wagen« niedergelegt, den er als Bedingung für Demokratie und als Weg zu mehr Gerechtigkeit versteht.
Die politischen Ambitionen vergaß der heute 69-Jährige indessen nicht. Seit 2018 bemühte er sich erneut um den CDU-Vorsitz; zweimal erfolglos, bevor der dritte Anlauf 2021 gelang, was ihm auch den Weg zur Kanzlerkandidatur öffnete. In Abgrenzung zur Ära Merkel rückte Merz die CDU wieder deutlich nach rechts und propagiert Sozialchauvinismus, gern in Verbindung mit latenter Fremdenfeindlichkeit. Einst brachte er den unseligen Kampfbegriff der »deutschen Leitkultur« in die politische Auseinandersetzung; daran knüpfte er Jahrzehnte später nahtlos an, als er ukrainischen Kriegsflüchtlingen Sozialtourismus vorwarf, über Migrantenkinder als »kleine Paschas« räsonierte oder sich darüber aufregte, dass Ausländer den Deutschen angeblich die Arzttermine wegschnappen.
Wahrscheinlich ist es das, was er sich unter politischem Kampf gegen die AfD vorstellt, die er – so sein Bekenntnis bei seinen Versuchen, CDU-Chef zu werden – halbieren wollte. Stattdessen ist die Rechtsaußen-Partei stärker denn je. Und auch mit der von ihm bekräftigten Brandmauer nach rechts ist es nicht weit her. »Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an« – dieses Diktum fürchtet in der CDU niemand, erst recht nicht, seit er selbst im Bundestag auf Stimmen von rechts spekulierte, um die Ampel-Regierung vorzuführen.
Überhaupt ist Merz ein Mann der schnellen, zugespitzten, manchmal auch unbedachten Worte. Vor mehr als 20 Jahren versprach der Finanzexperte, das komplizierte deutsche Steuerrecht so zu vereinfachen, dass ein durchschnittlicher Arbeitnehmer sie auf einem Bierdeckel erledigen könnte. Man darf wetten, dass diese Idee auch in Merz’ Kanzlerschaft nicht verwirklicht wird.
Wohlmeinende Medien versuchten zuletzt in feinfühligen Porträts, das Menschliche an diesem Mann herauszumeißeln, der vieles über das Geld definiert. Aber manchmal sagt ein kurzes Schlaglicht mehr als viele Worte. Als Merz vor etlichen Jahren einmal in Berlin sein Notebook mit allerhand sensiblen Daten und Dokumenten an einem Taxistand vergaß, fand es ein Obdachloser. Der Mann brachte es zur Polizei, und nach einiger Zeit erreichte ihn der Dank des Eigentümers – ein Buch mit Widmung von Merz, Untertitel: »Vom Ende der Wohlstandsillusion«.
Wer so empathielos und leichthin mit Menschen in sozialer Not umgeht und Leute wie Carsten Linnemann und Jens Spahn um sich schart, die Sozialpolitik wie lästige Kennziffern behandeln, der ist das kalte Herz des Bürgertums. Der in Lars Klingbeil einen willigen Gehilfen gefunden hat. Und im Hintergrund lauern die Drückerkolonnen der Kapitaleffizienz, die ihn zu Rentenkürzungen, längerer Lebensarbeitszeit und anderen unsozialen Zumutungen drängen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191049.kanzlerwahl-das-kalte-herz-des-buergertums.html