Der Fotochemiker Kurt Maetzig[1] (Jahrgang 1911) und seine Frau Marion Keller[2] (Jahrgang 1910) betrieben während des Zweiten Weltkriegs in Werder an der Havel ein kleines Fotochemielabor, in dem sie die Möglichkeiten erforschten, den Silbergehalt aus der Emulsion von Kinofilmen zurückzugewinnen. Das galt als kriegswichtig und schützte sie.
In unmittelbarer Nachbarschaft ihres Labors, einer ehemaligen Kneipe, die allgemein »Mausediele« genannt wurde, an der Friedrichshöhe, befanden sich ein Lager mit sowjetischen Kriegsgefangenen und ein Lager mit Zwangsarbeitern. Zwischen den Laborleuten und den »Ausländern« dieser beiden Lager entwickelten sich lockere, quasi illegale Kontakte.
Sie wurden von einem Polen, der Janek hieß, koordiniert, der Maetzig oft traf. Janek kam, mal mit einem Handwagen, mal als Installateur mit Werkzeugen und Ähnlichem immer wieder kurz im Labor vorbei, und sie besprachen schnell das Wichtigste. Einer der sowjetischen Gefangenen, der Koch des Lagers, im Zivilberuf Ingenieur, rettete sich später ins Labor, als die Gefangenen wenige Tage vor der Befreiung aus dem Lager ausbrachen, um nicht noch im letzten Augenblick umgebracht zu werden.
Die sogenannten Fremdarbeiter nahmen Kontakt zu den Russen auf. Dann klebten in Werder handgeschriebene Zettel an den Bäumen, auf denen stand, dass die sowjetischen Truppen am nächsten Morgen um die und die Zeit in Werder einrücken würden. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben.
Kurz vor dem erwarteten Eintreffen der Roten Armee fanden sich bei Marion Keller und Kurt Maetzig im Labor verschiedene Zwangsarbeiter ein, unter ihnen Polen, Franzosen, Belgier und Holländer – und auch der versteckte Russe kam ans Licht. Zusammen mit den Fremdarbeitern hissten sie eine aus einem Kisseninlet improvisierte rote Fahne. In gespannter Stimmung erwarteten sie die Rote Armee am 3. Mai, einem herrlichen Frühlingstag. Das weiß man aus den Aufzeichnungen der beiden.
Von Ferne ertönte ein leises und dann anschwellendes Dröhnen von Panzerketten. Dann hörte man das Kreischen und Schreien vieler Frauenstimmen. Es waren die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen, die im ehemaligen Tanzsaal auf der Friedrichshöhe untergebracht waren. Sie kamen nun die lange Treppe heruntergerannt und rissen blühende Fliederzweige von den Büschen ab. Als die Panzer herankamen, warfen sie diese vor ihnen nieder, winkten den auf den Panzern sitzenden Soldaten zu, schrien und weinten.
Mit der roten Kissen-Fahne in der Hand, umgeben von den Zwangsarbeitern aus verschiedenen Ländern und einem russischen Gefangenen inmitten jubelnder und weinender sowjetischer Frauen in der Maisonne des 3. Mai 1945, fünf Tage vor der Kapitulation des faschistischen Deutschlands, erlebten Kurt Maetzig und Marion Keller endlich die Befreiung.
Danach kamen immer mehr Zwangsarbeiter, Holländer, Franzosen, Polen zu Marion und Kurt ins Labor. Alle zusammen aßen ein festliches Abendbrot an diesem denkwürdigen 3. Mai. Und sie hinterließen Marion und Kurt eine Art Schutzbrief, damit diese nicht für Nazis gehalten wurden, in dem sie den menschlichen Kontakt zwischen ihnen bestätigten.
Nach der Befreiung kehrten Keller und Maetzig nach Berlin zurück. Maetzig wurde Mitbegründer der Defa und schuf bedeutende Spielfilme (»Ehe im Schatten«, »Das Kaninchen bin ich«), Marion Keller leitete lange Jahre die Defa-Wochenschau »Der Augenzeuge«. Ihre sehr persönlichen Erlebnisse am Tag der Befreiung haben die beiden nicht vergessen.
Den Nachlaß von Kurt Maetzig bewahrt die Akademie der Künste auf, den Nachlaß Marion Kellers übergab die Tochter Claudia Köpcke dem Filmmuseum Potsdam
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191050.antifaschismus-ein-tag-der-befreiung-in-werder.html