nd-aktuell.de / 08.05.2025 / Kultur / Seite 1

Kenda Hmeidan: Königin im Schlamm

In Burhan Qurbanis Shakespeare-Adaption »Kein Tier. So wild.« hat Kenda Hmeidan die Hauptrolle übernommen und verblüfft als weiblicher Richard III.

Erik Zielke
Auch der Winter ihres Missvergnügens ist der Sonne Yorks gewichen: Kenda Hmeidan lässt scheinbar mühelos aus Richard III. eine machthungrige Rashida werden.
Auch der Winter ihres Missvergnügens ist der Sonne Yorks gewichen: Kenda Hmeidan lässt scheinbar mühelos aus Richard III. eine machthungrige Rashida werden.

Ihre erste Arbeit für das Kino war das. Und dann gleich eine Hauptrolle. Kenda Hmeidan hat die Rashida in Burhan Qurbanis viertem Langfilm »Kein Tier. So wild.« gespielt, der gerade in den Kinos anläuft. Eine freie Aneignung von William Shakespeares Historiendrama »Richard III.« für die Leinwand.

Von der Scheu der Debütantin vor der Kamera ist allerdings nichts zu spüren. Auffällig kraftvoll spielt Hmeidan ihre Rolle und trägt den Film über die ganze Dauer von fast zweieinhalb Stunden. Der Mann, der bei Shakespeare Richard heißt und sich Herzog von Gloucester nennt, ist in Qurbanis Adaption eine Rashida.

Nach dieser Rashida gefragt, beschreibt Hmeidan sie im Gespräch als »eine starke Figur, überkomplex und vielschichtig«. »Sie handelt sehr strategisch und gleichzeitig pragmatisch«, meint sie. Es ist dem Film anzumerken, dass die Schauspielerin nicht den Vorzeigebösewicht aus dem Standardrepertoire für das Publikum abliefert. Sie hat sich die Figur ernsthaft erarbeitet.

»Rashidas Konflikt geht auf ihre Kindheit zurück, als sie aus einem Kriegsgebiet kam und in einem völlig anderen Land gelandet ist. Sie musste bei null anfangen, hat ihre Sprache verloren«, sagt sie. Und auch: »In ihr steckt sehr viel Trauma, das ihre Wut und ihren Hunger nach Sichtbarkeit hervorruft.«

Gemeinsam mit der Dramatikerin Enis Maci hat Burhan Qurbani das elisabethanische Drama in ein Drehbuch überführt, dessen Sprache sehr heutig wirkt und gleichsam sehr kunstvoll geformt ist. Verse werden den Zuschauern zugemutet, ohne dass es sich nach einer Zumutung anfühlen würde. Der Shakespeare’schen Handlung und Dramaturgie folgen die beiden, erlauben sich aber allerhand Freiheiten im Umgang mit dem Stoff, die keineswegs willkürlich erscheinen.

Die Rosenkriege, die unerbittliche Auseinandersetzung zwischen den Häusern York und Lancaster, haben in der Vorlage zugunsten Ersterer ihr Ende gefunden. Dem Krieg nach außen folgt der Krieg nach innen. Um sich selbst das Anrecht auf die Thronfolge zu verschaffen, lässt Richard III. kein Mittel ungenutzt und schaltet seine Konkurrenz gnadenlos aus.

Nicht nur die Sprache von Maci, auch der hohe Grad an Abstraktion bei der Darstellung des Filmgeschehens, der Umgang mit Kamera und Schnitt lassen aufscheinen, dass das Kino in diesem Fall die Verwandtschaft zur Bühnenkunst nicht leugnen will. »Der Film ist auf gewisse Weise sehr theatral«, meint auch Hmeidan.

Und das ist etwas, wovon sie viel versteht. 1992 in Syrien geboren, absolvierte sie 2015 die Schauspielschule in Damaskus, ehe sie im Folgejahr nach Deutschland kam und bis 2024 zunächst dem Exil-Ensemble, dann dem regulären Ensemble des Berliner Maxim-Gorki-Theaters angehörte. Hier spielte sie kleine und große Rollen, von Heiner Müller bis Bertolt Brecht und hin zur zeitgenössischen postmigrantischen Dramatik, die durch dieses Haus so entscheidend geprägt wurde und der es zu einem unbestreitbaren Einfluss auf das deutschsprachige Gegenwartstheater verholfen hat.

Als Verlegung der Handlung aus dem blutigen England des 15. Jahrhunderts ins heutige, in der fiktionalen Überhöhung gleichfalls blutig von rivalisierenden Straßengangs regierte Berlin-Neukölln wurde »Kein Tier. So wild.« vielfach griffig, vielleicht etwas zu griffig, beschrieben. Aber wie viel Neukölln steckt tatsächlich in dem Film? »Eigentlich nicht viel«, sagt sie schnell. Kenda Hmeidan ist selbst in dem medial zum Problemviertel erklärten Stadtteil zu Hause, stellt aber klar: »Es ist kein Film, erst recht keine Dokumentation über arabische Clans oder über Neukölln. Der Film beginnt mit Neukölln, aber diese Spur verschwindet nach und nach. Und der Zuschauer landet in der Innenwelt der Figuren, der vereinsamten Charaktere mit ihren Problemen. Es handelt sich nicht um ›Four Blocks‹, die Menschen sprechen Shakespeare und sie erobern sich diese Sprache.«

Dieser Transfer von englischen Adelshäusern zum arabischen Clanmilieu ist nur eines der filmischen Wagnisse in »Kein Tier. So wild.«. Ist der sich selbst als stets zu kurz gekommen empfindende Richard bei Shakespeare durch seine körperliche Behinderung auf entscheidende Weise geprägt, musste für den Film auch dafür eine Entsprechung gefunden werden. »Die Interpretation für die Behinderung von Richard III. in unserer Adaption ist, dass sie eine Frau ist«, erklärt Hmeidan. »Ich finde, das ist eine sehr starke Setzung. Schon von Anfang an, als ich für die Rolle gecastet wurde, war das für mich sehr überzeugend.«

Eine starke Setzung, ja. Aber auch eine mutige Entscheidung. In Zeiten identitätspolitisch aufgeladener Debatten werden kühne Interpretationen wie diese leicht angreifbar. Für Burhan Qurbani und sein Team scheinen aber analytische Fragen den Vorrang vor affektiven Empfindsamkeiten zu haben. Und tatsächlich macht es tiefen Eindruck, wie Kenda Hmeidan eine Rashida spielt, die durch die äußeren Umstände gezwungen ist, sich als Kämpferin zu beweisen. »Shakespeare vermittelt in seinem Drama eine Vorstellung von Otherness und von einer Figur, die versucht, ihrer Unsichtbarkeit zu entkommen«, sagt sie.

»Es handelt sich nicht um ›Four Blocks‹, die Menschen sprechen Shakespeare.«

Kenda Hmeidan

»Rashida ist ein ungeliebtes und unerwünschtes Kind. Sie ist eine Überlebenskünstlerin. Die Tatsache, dass sie eine Migrantin ist, fügt dem Shakespeare’schen Drama eine zusätzliche Ebene der Otherness hinzu. Sie weigert sich, ein Spielzeug in der Hand eines Mannes zu sein. Sie ist nicht bereit, sich auf dem Weg zu ihren Zielen den gesellschaftlichen Normen anzupassen, sondern wird alles tun, was nötig ist, um ihre Macht in einer von Männern dominierten Gesellschaft zu sichern.«

Durch die Vielschichtigkeit des Films, der Fragen nach ethnischer Herkunft, Geschlecht und Milieu miteinander verwebt, ohne eine Widerspruchsfreiheit zu behaupten, die es in der Realität nicht geben könnte, wird eine weitreichende politische Dimension entfaltet. Was sich uns im Kino zeigt, korrespondiert mit unzähligen kleinteiligen politischen Fragen der Gegenwart. Aber eigentlich nur, weil hier doch etwas Größeres, Grundlegendes verhandelt wird: Wie erlangt man Macht, wie erhält man sie aufrecht?

Bei der diesjährigen Berlinale, wo »Kein Tier. So wild.« seine Weltpremiere feierte, habe der Moderator bei einem Publikumsgespräch gesagt, so erzählt es Kenda Hmeidan, für ihn gehe es in dem Film um Palästina. Wohl mit gleichem Recht könnte man darin ein Bild für den Trumpismus sehen oder generell für das politische Gebaren der untergehenden Weltmächte heute und gestern – oder für etwas gänzlich anderes.

Als sie den Film vor zwei Jahren gedreht haben, sei die politische Situation in Deutschland bereits angespannt gewesen, geprägt von wachsender Polarisierung, zunehmendem Rassismus und einer repressiven Haltung gegenüber migrantischen Communitys, meint Hmeidan. Aber nach dem 7. Oktober 2023 sei es schlimmer geworden. Die Welt stand kopf! Der öffentliche Diskurs über Palästina und Gaza sei extrem begrenzt, arabische und muslimische Stimmen würden immer mehr zum Verstummen gebracht, kriminalisiert und ausgeschlossen, beklagt sie.

Streitbar mag diese Position sein. Aber es dürfte doch deutlich geworden sein, dass der Film nicht nur an der Oberfläche politischer Verhältnisse kratzt, sondern sie zu durchdringen versucht, und auch, dass die politischen Mechanismen, die unser Zusammenleben bestimmen, sich seit Shakespeares Zeiten so sehr nicht verändert haben.

»Die Figur der Rashida wird zu einem Spiegel, der die Wut und Verzweiflung zeigt, die wachsen, wenn ganze Communitys zum Schweigen gebracht werden, und auch das, was passiert, wenn Menschen an den Rand gedrängt werden und an Orten, die sie ihr Zuhaue nennen, gefangen sind zwischen staatlicher Kontrolle, öffentlichem Misstrauen und dem schmerzhaften Erleben von Krieg und Ungerechtigkeit. Der Thronsaal aus Schlamm«, sagt Hmeidan mit Blick auf den bildstarken Schlussteil des Films, »der symbolische Dreck, in dem Rashida steht, als sie die Macht erlangt, ist auch der Schlamm des moralischen Kompromisses, der Komplizenschaft, des Überlebens in einem Land, das Schweigen im Tausch gegen Sicherheit verlangt.«

Wenn Theater oder Kinos solche Aspekte nicht nur streifen, sondern in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen, ist bereits ein Stück Freiheit in den oft erhitzten, mitunter unerwünschten Debatten zurückgewonnen.

»Kein Tier. So wild.«, Frankreich/Deutschland/Polen 2025. Regie: Burhan Qurbani. Buch: Enis Maci/Burhan Qurbani. Mit: Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, Hiam Abbass, Mona Zarreh Hoshyari Khah, Mehdi Nebbou. 142 Min. Start: 8.5.