nd-aktuell.de / 08.05.2025 / Kultur / Seite 1

Konrad, Victor und Johannes

Befreier, Opfer, Täter 1945 – zum Beispiel im Havelland

Dieter Seeger
Jaecki Schwarz (l.) in Konrad Wolfs Film »Ich war neunzehn«
Jaecki Schwarz (l.) in Konrad Wolfs Film »Ich war neunzehn«

Am 5. Mai 1945 schreibt Konrad Wolf an seine Mutter Else, die Ehefrau des Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf, in Moskau: »Liebe Meni, … Ihr könnt Euch einfach nicht vorstellen, wie viel Arbeit wir seit Beginn unseres Angriffs auf Berlin hatten. Während ich diesen Brief schreibe, befinden wir uns bereits weit westlich Berlins, und wir erwarten bald das Zusammentreffen mit den Alliierten.« Friedrich Wolfs Familie mit den Söhnen war vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen. Beim Überfall Hitlerdeutschlands meldeten sich die Söhne Markus und Konrad zur Roten Armee. Konrad wurde der Politabteilung der 47. Armee zugeteilt, um als Frontbeauftragter am Lautsprecher die Soldaten der Wehrmacht aufzurufen, sich den faschistischen Verbrechen zu entziehen und in Gefangenschaft zu kommen, um zu überleben. In seinem Film »Ich war neunzehn« schilderte der spätere berühmte Regisseur seine Erlebnisse, und in seinem Kriegstagebuch »Aber ich sah ja selbst, das war der Krieg« berichtete er über die letzten Kriegstage im Havelland.

Konrad Wolfs Einheit befreite das KZ Sachsenhausen und kam nach Premnitz, wo durch den mutigen Einsatz einer Widerstandsgruppe aus Kommunisten und Sozialdemokraten eine sinnlose Verteidigung durch den »Volkssturm« verhindert wurde. Adolf Rapsch, KPD-Mitglied vor dem Machtantritt der Nazis, ging mutig den Sowjetsoldaten entgegen und erreichte die kampflose Übergabe des Ortes. Die in »Ich war neunzehn« geschilderte legendäre Siegesfeier fand jedoch im Direktorenhaus des hiesigen IG-Farben-Werkes statt und nicht, wie im Film suggeriert, im Schloss Sanssouci. Zuvor hatten, am 26. April 1945, die Soldaten der 47. Armee das Rathenower KZ befreit. Die Wachmannschaft aus deutschen SS-Männern und ukrainischen Faschisten dieses KZ Außenlagers von Sachsenhausen war in Panik geflohen. Zu den befreiten Häftlingen gehörten der Maurer Victor Berthe aus Robecq in Frankreich und der Chemiestudent Johannes Marten Los aus Amsterdam.

Victor hatte im Ersten Weltkrieg als Leutnant gegen die kaiserliche deutsche Armee gekämpft. Als 1940 die Wehrmacht in seine Heimat einfiel und ihr Besatzungsregime errichtete, die Bevölkerung unterdrückte, politische Gegner verfolgte und die Juden in Vernichtungslager deportierte, organisierte und kommandierte er ein Netzwerk von Widerstandsgruppen in Robecq und Béthune. Die Gestapo setzte Spitzel ein, kam den Widerständlern auf die Spur. Victor und seine Mitkämpfer wurden am 10. Dezember 1943 verhaftet, ins Konzentrationslager Vaught in den Niederlanden, bei s’Hertogenbush südöstlich von Amsterdam, verschleppt und im September 1944 auf Transport ins KZ Sachsenhausen und sodann weiter ins Außenlager Rathenow geschickt. Der damals 46-jährige Maurer musste wie seine Mithäftlinge und mehrere Hundert ausländische Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie schuften, die ARADO-Flugzeugwerke.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren unmenschlich. In einem Bericht des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, taucht auch das Rathenower ARADO-Werk auf. Dort seien jeden Monat ein Fünftel der Häftlinge gestorben. Misshandlungen und Folter waren alltäglich. Hier wurde auch der Sohn des Vorsitzenden der belgischen Kommunistischen Partei, Joseph Jacquemotte, zu Tode gequält; in eiskalter, frostiger Nacht musste er nackt unter freiem Himmel stehen und wurde dabei von seinen Peinigern immer wieder mit Wasser begossen. In den Unterlagen von Sachsenhausen wird als Todesursache »beidseitige Lungenentzündung« genannt. Von Oktober 1943 bis Mai 1945 sind im Rathenower KZ 19 Todesfälle nachgewiesen, die Dunkelziffer bleibt offen. Victor hatte Glück, er konnte am 26. Juli nach Robecq heimkehren. 1961 wurde er mit dem Kreuz der Freiwilligen Kämpfer für Frankreich 1939–1945 geehrt und zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt.

»Ihr könnt Euch einfach nicht vorstellen, wie viel Arbeit wir seit Beginn unseres Angriffs auf Berlin hatten.«

Konrad Wolf in einem Brief im Mai 1945

Johannes Maarten Los studierte Chemie an der Universität Amsterdam, als 1940 die Wehrmacht unter Missachtung der Neutralität beider Länder in die Niederlande und Belgien einmarschierten. Er bildete mit 23 Kommilitonen eine illegale Gruppe. Die Jugendlichen erkundeten Wehrmachtstellungen am Flughafen Amsterdam-Schipol, um sie nach London der Air Force zu übermitteln. Angriffe der britischen Luftwaffe blieben jedoch aus. Dies lag offensichtlich an der anfänglichen Hoffnung des britischen Premiers und Kriegsministers Winston Churchill, die nazistische Kriegsmaschine durch Stillhalten nach Osten, auf die Sowjetunion, zu lenken. Johannes und seine Freunde waren enttäuscht, konnten das nicht verstehen.

Derweil hatte die deutsche Besatzungsmacht ihr Terrorregime errichtet und mithilfe holländischer Kollaborateure mit der Verfolgung und Zerschlagung jeglichen Widerstandes sowie der Verhaftung und Deportation der Juden in die Vernichtungslager begonnen. Auf Hinweis ihres Professors bemühte sich die Widerstandsgruppe um Johannes, jüdische Mitbürger zu verstecken. Sie besorgten sichere Quartiere in Südholland, Lebensmittel und Papiere. Johannes erwies sich bald als ein geschickter Fälscher von Pässen. Die Studenten druckten auch Lebensmittelkarten und organisierten Fluchtrouten. Letztlich gerieten auch sie in die Fänge der Gestapo. Durch Verrat flog die Gruppe auf. Es war Gestapochef Klaus Barbie, der spätere berühmt-berüchtigte »Schlächter von Lyon«, der die Verhöre in Lille durchführte. Johannes und seine Mitstreiter wurden ebenfalls zunächst ins KZ Vaugth deportiert, dann nach Sachsenhausen und schließlich ins Außenlager Rathenow. Johannes war der einzige aus seiner Widerstandsgruppe, der die Befreiung vom Faschismus erlebte. Zurückgekehrt in seine Heimat, nahm er sein Studium wieder auf und wurde Professor für Chemie an der Amsterdamer Universität. 1990 erhielt er von der zentralen israelischen Gedenkstätte Yad Vashem die Ehrung als ein »Gerechter unter den Völkern«. Jahrzehnte später suchte seine Tochter die Stätten des einstigen Leidens ihres Vaters in Sachsenhausen und Rathenow auf. Die Enkelin von Victor Berthe tat es ihr im Oktober vergangenen Jahres gleich.

Was aber wurde aus den Tätern? Der Enkel von Johannes Los, Jovan Bilbija, erlangte im Nationalarchiv von Den Haag Einsicht in die Strafakte des SS-Unterscharführers Otto Friedrich Wilhelm Schultz, geboren am 18. Juli 1895 in Neuenkirchen. Der Lagerführer des KZ-Außenlagers Rathenow war im April vor den sowjetischen Truppen nach Westen in US-amerikanische Gefangenschaft geflohen. Die Amerikaner übergaben ihn den niederländischen Behörden, die ihn vor Gericht stellten. Als besonders sadistischer, gnadenloser SS-Mann, der zudem keinerlei Reue zeigte, wurde Schultz im Januar 1949 zu sechs Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Dreist ging dieser in Berufung. Und hatte Erfolg. Seine Haftstrafe wurde zunächst auf vier Jahre herabgesetzt und nach einem Begnadigungsakt von Königin Juliane um ein weiteres Jahr. Bereits im November 1950 konnte Schultz als freier Mann in die Bundesrepublik übersiedeln.

Dieter Seeger, Jg. 1934, lebt in Rathenow, wo der pensionierte Lehrer als Lokalhistoriker unterwegs ist.