Am 5. Mai 1875, fast auf den Tag genau vor 150 Jahren, schrieb Karl Marx einen Brief an Wilhelm Bracke. Bracke war eine der führenden Persönlichkeiten der deutschen Arbeiterbewegung und galt als Gefolgsmann von Marx und Engels. Marx schlug also einen vertraulichen Ton an und legte dem Brief einen Text bei – zum internen Gebrauch –, der heute zu seinen berühmtesten zählt: die »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei«. Unter diesem Titel werden die meisten Leser*innen den Text vermutlich gar nicht kennen. Manchmal firmiert dieser als »Programmbrief«, aber seine Weltkarriere hat er unter dem Namen »Kritik des Gothaer Programms« angetreten. Eine solche hat Marx aber nie geschrieben; Randglossen sind etwas anderes als eine Analyse vom Rang der »Kritik der politischen Ökonomie« oder der »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«.
Der Vorgang, dass sich in den 1930er Jahren der Titel verschob, weg von den »Randglossen« hin zur »Kritik«, ist ein politischer. Wer als Erstleser, oder Neuleser, zu der gängigen DDR-Ausgaben greift – sie sind antiquarisch immer noch für sehr kleines Geld zu haben –, wird nicht schlecht staunen: Die »Randglossen« und der Bracke-Brief nehmen darin nur einen kleinen Teil ein. Regelrecht überwuchert sind diese Dokumente von Briefen von Engels an August Bebel, Engels’ Kritik am Erfurter Programm der Sozialdemokratie (1891), Engels’ Einführung zur Erstveröffentlichung der »Randglossen« (ebenfalls 1891) – und vor allem Lenins Auswertung der »Randglossen« am Vorabend der Oktoberrevolution 1917.
Vom 25. bis 27. Mai 1875 fand in Gotha der Vereinigungskongress der beiden deutschen Arbeiterparteien statt: Die vorgeblich Marx und Engels nahestehende Sozialdemokratische Arbeiterpartei (»die Eisenacher«) und der sich auf das Lebenswerk und die Schriften von Ferdinand Lassalle (1825–1864) berufene Allgemeine Deutsche Arbeiterverein schlossen sich zusammen. In London hatten die beiden Alten, wie Marx und Engels ehrfürchtig genannt wurden, vom Programmentwurf Wind bekommen und waren, gelinde gesagt, entsetzt. Bracke und Wilhelm Liebknecht verstanden sich als Marx-Schüler – und hatten doch mit den Lassalleanern stümperhaft und unpräzise formulierte Programmpunkte zusammengestoppelt.
»Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme«, donnerte Marx in seinem Brief an Bracke.
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»Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme«, donnerte Marx in seinem Brief an Bracke. Der Satz ist viel zitiert worden, die Passage geht aber noch weiter: »Konnte man also nicht … über das Eisenacher Programm hinausgehen, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktion gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt das bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt.« Marx erweist sich hier als erstaunlich pragmatisch – und gleichzeitig prinzipiell. An erster Stelle steht die in sich durchaus heterogene Bewegung, die zunächst – um gemeinsam zu lernen und zu wachsen – nicht viel mehr braucht als ein Aktionsprogramm »gegen den gemeinsamen Feind«. Die eigentliche Programmarbeit setzt erst dann ein. Sie ist zwingend erforderlich, aber man muss sich Zeit für sie nehmen können.
Der Gothaer Programmentwurf stellte diese Reihenfolge auf den Kopf und so sah Marx sich gezwungen, in Absprache mit Engels, Korrekturen anzubringen, eben die »Randglossen«. Was diesen kurzen Text so spektakulär macht, ist die Tatsache, dass es sich um eine der seltenen Anstrengungen von Marx selbst – und eben nicht von Engels – handelt, die Lehre zusammenzufassen und sie direkt anzuwenden, sie nochmals zu politisieren. Die »Randglossen« bringen Wertkritik – in Abgrenzung zu einer naiven Arbeitswerttheorie, wie sie das Gothaer Programm zum Ausdruck bringt – und Staatskritik zusammen und das explizit, ohne Umschweife, sans phrase sozusagen.
Wenn es im Gothaer Programm heißt: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur«, kontert Marx: »Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.« Heute erscheint dieser Gedanke als eminent ökologischer. Marx zielte darauf ab, dass der Satz »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur« keine stolze Feststellung sein kann, auf der sich der Sozialismus begründen lässt, sondern ein Indiz des falschen Lebens ist. Eine Gesellschaft, in der Arbeit zu der Quelle allen Reichtums erhoben wird, ist tatsächlich eine der rücksichtslosen Ausbeutung und Vernutzung von Natur und Arbeitskraft. Engels sah das genauso, wenn er in seinem Brief am 12. Oktober 1875 an den Parteiführer Bebel über »das Gerede von ›Befreiung der Arbeit‹ statt der Arbeiterklasse« ätzt: »die Arbeit selbst ist heutzutage ja gerade viel zu frei!« – mit schönen Grüßen an unsere Gegenwart!
Ihre Kritik blieb ohne Resonanz und hatte kaum Auswirkungen auf den Gothaer Kongress: ein niederschmetterndes Resultat. Dies wurde für »die Alten« ein wenig dadurch aufgewogen, dass die vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei im deutschen Reich angefeindet und verfolgt wurde, als wäre sie eine marxistisch-revolutionäre Partei. Auch die Gegner der Partei hatten die staatsgläubigen und reformistischen Implikationen des biederen Programms also nicht begriffen.
Erst 1891 – nun in Vorbereitung auf den Erfurter Parteitag – konnte Engels das nur in den Führungskreisen bekannte Papier zur Veröffentlichung durchdrücken. Auch jetzt blieb den »Randglossen« eine größere Wirkung versagt. 26 Jahre später war es Lenin, der ihre kritische Bedeutung, ihren Charakter als Synthese aus Ökonomie- und Staatskritik voll erkannte und systematisch auswertete. Und es waren drei Kommunisten, die nacheinander in den 1920er Jahren die »Randglossen« neu edierten und ihnen weiteres Material, nämlich Briefe von Marx und Engels, beifügten: der Tscheche Kurt Kreibich (1920) und die Deutschen Karl Korsch (1922) und Hermann Duncker (1928). »Randglossen gegen die Sozialdemokratie« nannte der Historiker Götz Langkau, der über die Editionsgeschichte eine feine Studie geschrieben hat, diese Veröffentlichungspolitik. Insbesondere Korsch gelang es zu zeigen, dass der reformistische Geist der Lassalleaner im Staatssozialismus und Parlamentarismus der Weimarer Sozialdemokratie wiederkehrte.
Es waren die Moskauer Marx-Editoren, die mit der Macht des Staatsverlags im Rücken es durchzusetzen vermochten, dass ab 1933 die Randglossen als »Kritik des Gothaer Programms« geläufig wurden. Sie fügten die Notizen Lenins hinzu und in den 1940er Jahren sogar Texte von Stalin. Dadurch wurde aus den aktivistischen Einwürfen von Marx – beste Beispiele für die heute noch viel beschworene »Kritik im Handgemenge« – ein kanonischer Text mit Werkcharakter, in dessen Kontinuität beziehungsweise als dessen Vollender schließlich Lenin und Stalin standen. Et voilà – so macht man Politik.
Diese Macht der Kanonisierung ist schon lange gebrochen, aber die bisweilen übergroße Ehrfurcht vor Marx-Texten und die Manie, in ihnen definitive Antworten zu erwarten und alle zu großen Werken zu erklären, ist es nicht. Die »Randglossen« sind allerdings ein großes Werk, aber gerade weil sie eine intervenierende Schrift sind, eilig skizziert und auf Zuspitzung und Verknappung setzend. So sollte man sie auch lesen und so kann man mit ihnen immer noch arbeiten. Was Marx aufspießt: Vergötzung der Arbeit und Staatsgläubigkeit einerseits, ein verkürzter Sozialismusbegriff und eine bloß utopische Vorstellung von Kommunismus andererseits – Irrungen, die innerhalb der Linken unverwüstlich scheinen.
Aber auch das sollte man nicht übersehen: Marx beendet die »Randglossen« mit einem Seufzer: »Dixi et salvavi animan meam.« – »Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet.« Mit dem ganzen Quatsch nichts zu tun haben zu wollen, das erscheint am Schluss als sein Hauptanliegen. Hier blitzt eine Eitelkeit und Rechthaberei durch, die in marxistischen Kreisen ebenfalls unverwüstlich ist.