Der Mythos, der sich um die Musik der Neuen Deutschen Welle[1] rankt, geht in etwa so: Ende der 70er, Anfang der 80er erlebte die deutschsprachige Musiklandschaft, bis dahin fest im Würgegriff des Schlagers, eine veritable Explosion der Formen. Es wurde mit allem, was zur Klangerzeugung taugte, heiter herumexperimentiert[2]; Hunderte Bands und Projekte schossen aus dem Boden, in Westberlin, Hamburg Düsseldorf, aber auch in vielen anderen Städten und sogar in Hannover. Der Zauber aber währte nur kurz, 1982 leitete der Sänger Markus mit seiner Hitsingle »Ich will Spaß« das Ende ein. Was von der NDW übrig blieb, war idiotenfrohe bundesrepublikanische Popmusik, systemstabilisierend und penetrant. In den Nischen aber wurde weitergewurstelt, und alles, was hierzulande versuchte, an den Postpunk anzuschließen, griff auf die berühmte erste Welle zurück.
Viele Bands, die damals wirkten, sind heutzutage, wenn nicht vergessen, so doch zumindest an den Rand pophistorischen Bewusstseins gerückt. Das Hamburger Label Tapete Records bringt seit ein paar Jahren Alben von den schönen Rändern der Popgeschichte wieder heraus und entreißt sie so dem Vergessen.
Ausgehend von drei Akkorden wird hier freihändig etwas angemischt, das lustvoll verkrampft wirkt.
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Zuletzt wurden ein Großteil des Gesamtwerks der Hannoveraner Band Der Moderne Man und weitere Alben der Band S.Y.P.H. veröffentlicht. Beide Bands klingen sehr unterschiedlich, haben aber zwei Gemeinsamkeiten: Erstens die radikale Freiheit der Form. Sowohl Der Moderne Man als auch S.Y.P.H. hört man an, dass sie sich um Genregrenzen keine Gedanken machen, zumindest keine besorgten. Und zweitens haben sie Punk als Ausgangspunkt – und haben dem bestimmte Stränge hinzugefügt und damit Späteres vorweggenommen.
Die Band Der Moderne Man brachte es auf nur zwei Alben: »80 Tage auf See« (1980) und »Unmodern« (1982). Dazu kommt jetzt noch eine neue Compilation »Jugend forscht«, die die Singles, EPs und Demos aus den Jahren 1980 bis 1983 versammelt. »Jugend forscht« ist auch der beste denkbare Titel für diese Musik. So heißt ein Nachwuchs-Technikwettbewerb, den die Zeitschrift »Stern« in den 60er Jahren erfunden hatte. Im Fall der Musik von Der Moderne Mann überträgt sich Spaß am Experimentieren, am Abstrusen und am liebevoll Windschiefen auch noch 45 Jahre nach ihrer Entstehung schnell auf Zuhörerin und Zuhörer.
Man kann gut einsteigen mit dem »Disco-Lied«, das, von John Peel geliebt und mehrfach in seiner berühmten Sendung auf BBC gespielt, zu einem stoischen Bass und Offbeat-Gitarre Alltägliches referiert: »Zuhause mach ich mich schick/ dann geh ich in die Diskothek/ dort reiß ich alle Mädels auf/ den Konsum nehm ich gern in Kauf«. Quasi eine deutsche Übertragung von Gang of Fours Song »At Home He Feels Like a Tourist«. Alltagsbegebenheiten sind oft Thema in diesen Texten, die aber in ihrer, wenn man so will, dringlichen Banalität dann auch wieder kryptisch wirken. Das Alltägliche und Allgemeine wird in diesen Songs eher entrückt. Im »Telefonlied« etwa geht es darum, dass man irgendwo anruft, sich aber verwählt hat.
Musikalisch ist das früher Postpunk. Ausgehend von drei Akkorden wird hier freihändig etwas angemischt, Reggae und Dub vor allem, was aber nicht für eine entspannte Atmosphäre sorgt, sondern, weil das alles minimal verstolpert dargeboten wird, eher lustvoll verkrampft wirkt. In diesem Sinne waren Der moderne Man näher an The Pop Group[3] dran, die sie wohl auch kannten, als an The Clash.
1982 erschien dann das letzte Album »Unmodern«. Das war nach landläufigen Maßstäben besser produziert und Ska-lastiger, und im Zuge des NDW-Booms fingen Labels an, sich für Der Moderne Man zu interessieren, 1984 übertrug der WDR ein Konzert der Band. Trotzdem war noch im selben Jahr Schluss. Was bleibt, ist eine Sammlung wundersamer Lieder, die heutzutage nicht mehr »modern« klingen, aber immer wieder überraschend und voll schräger Schönheit sind.
Die Band S.Y.P.H. um den Sänger und Gitarristen Harry Rag trieb es musikalisch noch weiter raus. Bekannt und geliebt wird die Band aus Solingen für knackige Art-Punk-Kracher wie »Zurück zum Beton« , einer der meistgecoverten und zitierten deutschen Punksongs, und »Industrie-Mädchen«. Aber schon auf der zweiten Seite des ersten Albums driftete die Band mittels Tape-Loops und Krautrock-Gedengel ins musikalische Wunderland.
Auf Tapete sind jetzt die Platten »Pst« (1980), das vierte Album »S.Y.P.H.« (1981) und die Compilation »Punkraut (1978 bis 1981)« wiederveröffentlicht worden. Auf »Pst« dominiert noch die Songform, wenngleich die reduzierte Postpunk-Ästhetik mit forciertem, also kunstvollem Dilettantismus ins Windschiefe gesetzt wird. Das können bewusst schlecht gespielte Gitarrensoli sein, die sich über das ganze Stück ziehen, schräge Ooooh-Ooooh-Gesänge oder ein Basslauf oder ein Riff, die einen halben Schlag hinter dem Schlagzeug hereiern. Aber angezählt wird hier noch mit »Eins, zwo, drei, vier«.
Das ist auf dem selbst betitelten vierten Album dann anders. Die drei kurzen Stücke und die zwei 18 Minuten langen »Der Nachbar (lange Version)« und »Little Nemo« lassen vom Frühwerk nicht mehr viel übrig. »Der Nachbar« zum Beispiel ist in einer Drei-Minuten-Variante schon auf »Pst« zu hören. Auf »S.Y.P.H.« bleibt dann ein repetitives, verpilztes Schlieren, das in verschiedenen Formen das gesamte Album durchzieht. Mit ihrem vierten Album haben S.Y.P.H. vielleicht keine unhörbare Musik produziert, aber doch eine, der es offensiv egal ist, ob jemand zuhört oder nicht. Auch in diesem Sinne ist das alles auch in den psychedelischsten und verspultesten Momenten mehr Punk als, sagen wir, Die Toten Hosen, die es allerdings immer noch gibt.
Der Moderne Man: »80 Tage auf See«, »Unmodern«, »Jugend forscht – Singles, EPs & Demos 1980–1983« (alle Tapete/Indigo)
S.Y.P.H.: »Pst«, »S.Y.P.H.«, »Punkraut 1978–1981« (alle Tapete/Indigo)
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191076.brd-untergrund-es-lebe-die-schraege-schoenheit.html