nd-aktuell.de / 08.05.2025 / Politik / Seite 1

Koalitionsvertrag: Kaum gestartet, schon enttäuscht

Niemand findet den Koalitionsvertrag gut. Kein Wunder – denn die Koalition widmet sich einem Problem, das sie nicht lösen kann

Stephan Kaufmann
Die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft war früher eine Stärke, jetzt wird sie zur Last.
Die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft war früher eine Stärke, jetzt wird sie zur Last.

Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD wird nicht nur von links kritisiert. Auch Liberale, Rechte und Konservative, Unternehmen und ihre Verbände finden ihn »mutlos«. Tatsächlich wirken die Vorhaben der Koalition eher harmlos angesichts der gigantischen Aufgaben, vor die sie sich gestellt sieht. Die versprochene »Wende« beinhaltet der Vertrag nicht. Das allerdings ist wenig überraschend. Denn die Lösung der Probleme, mit denen der deutsche Standort derzeit konfrontiert ist, liegt zum Großteil außerhalb der Reichweite der Bundesregierung. Von der absehbaren Enttäuschung dürfte vor allem die AfD profitieren.

Die nächsten Jahre, so heißt es im Koalitionsvertrag, werden »maßgeblich darüber entscheiden, ob wir auch in Zukunft in einem freien, sicheren, gerechten und wohlhabenden Deutschland leben«. Denn das Land stehe vor »historischen Herausforderungen«. Gemessen an dieser Diagnose fallen die Bewertungen eindeutig aus: Der Koalitionsvertrag falle »hinter das Notwendige zurück«, kritisiert die Industrieverbands-Chefin Tanja Gönner. »Mehr Mut muss folgen«, fordert die Deutsche Industrie- und Handelskammer. Der Reformstau sei »nicht aufgelöst«, rügt die »Tagesschau«. Der Kommentator des Deutschlandfunks sieht im Koalitionsvertrag schlicht »nichts Neues«, und aus Sicht des Philosophen Jürgen Manemann fehle es der Politik an »Zukunftsvisionen«.

Der Kern des Koalitionsprogramms lautet: mehr Wirtschaftswachstum

»Nicht genug«, lautet das allgemeine Urteil – nicht genug, um den strategischen Kern des Koalitionsprogramms zu erreichen: mehr Wirtschaftswachstum. Denn davon soll alles abhängen: die Aufrüstung, der Sozialstaat, der Klimaschutz, die Arbeitsplätze, der Wohlstand – und der Koalitionsvertrag selbst. Denn alle in ihm aufgeführten Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt »und daher unter Wachstumsvorbehalt«, erklärt der Ökonom Rudi Kurz auf dem Portal »Makronom«. Das heißt: Der Vertrag unterstellt das Wachstum, das er herzustellen verspricht.

Zwar dürften laut Ökonomen die kreditfinanzierten Ausgaben für Infrastruktur und Aufrüstung das Wachstum etwas anschieben. Einige geplante Steuer- und Energiepreissenkungen freuen auch die Unternehmen. Insgesamt aber sei der Vertrag »kein Wachstumsprogramm«, so die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer – ebenso wenig wie die vorangegangenen Programme der Ampel-Regierung.

Dass sich die neue ebenso wie die vergangene Bundesregierung bei ihrem Kernziel so hilflos zeigt, liegt auch an der Lage, in der sich der Standort Deutschland befindet. Zum einen ist er besonders industrielastig; der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung liegt doppelt so hoch wie in Frankreich, Großbritannien oder den USA. Dies war in der Vergangenheit eine Stärke des Standortes, die ihm ab 2010 ein goldenes Jahrzehnt bescherte, während andere Euro-Länder durch die Krise manövrierten. Doch der globale Investitionsboom ist vorüber, heute herrschen in vielen Branchen Überkapazitäten und Nachfragemangel.

Export: Auf dem Weltmarkt wird es eng

Auch die andere Stärke des Standortes wird zur Last: der Export. So werden 80 Prozent der deutschen Autos im Ausland abgesetzt. Eng wird der Weltmarkt zum einen durch die Zollpolitik der USA.[1] »Ein Handelskrieg könnte Deutschland in den nächsten vier Jahren 200 Milliarden Euro kosten«, errechnet das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Sämtliche Wachstumsprognosen für Deutschland hängen daran, dass US-Präsident Donald Trump seinen Zollkrieg nicht eskalieren lässt.

Dazu kommt der Aufstieg Chinas, das immer stärker zum Konkurrenten auf den Märkten innerhalb der Volksrepublik wie auch auf den deutschen »Heimatmärkten« wird. Chinas Exportpalette habe sich der deutschen weitgehend angeglichen, so eine Studie der Bank KfW. Daher sei »davon auszugehen, dass die Anstrengungen Chinas, sich intensiver in die globalen Wertschöpfungsketten einzubringen und mehr Wertschöpfung im eigenen Land zu generieren, für eine weitere Zunahme des Wettbewerbs mit Unternehmen in Deutschland sorgen« werden.

Gegen diese Entwicklungen hilft es wenig, wenn die Koalition Energie verbilligt, »Gründerschutzzonen« einrichtet, das Lieferkettengesetz kassiert und Arbeitslosen die Unterstützung streicht. Darüber hinaus ist unklar, wie eine laut Koalitionsvertrag notwendige »umfassende Erneuerung unseres Landes« überhaupt zu bewerkstelligen wäre. »Mehr Wachstum schaffen« sagt sich so leicht. Denn sämtliche weitergehenden Maßnahmen sind mit zahlreichen Widersprüchen behaftet.

So könnten die Mittel für staatliche Investitionen drastisch aufgestockt werden – doch woher soll das Geld kommen? Der Haushalt ist schon auf Kante genäht. Mehr Schulden wären eine Option – aber das könnte die Kreditwürdigkeit Deutschlands beschädigen, die bereits durch massive Aufrüstung strapaziert wird. Eine Verbilligung der Arbeit drückt zwar die Kosten für Unternehmen – kostet aber auch Nachfrage.

Steuersenkungen werden gefordert. Doch ihre Wachstumswirkungen sind umstritten, schon allein weil den deutschen Konzernen dank hoher Gewinne kaum Geld fehlt – was fehlt, ist die Nachfrage nach ihren Produkten. »Steuerliche Entlastungen für Unternehmen sind notwendig, aber sie allein werden Deutschland nicht wieder zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen«, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Zudem kosten Steuersenkungen den Staat Geld – wo sollte gestrichen werden?

Weniger Klimaschutz-Ausgaben – mehr Kosten durch Klimawandel

Als eine Art Wundertüte wird der Abbau der »Bürokratie« behandelt, wobei es sich im Koalitionsvertrag zum Großteil um eine Abschwächung des Klimaschutzes handelt. Das erspart den Unternehmen zwar Ausgaben. Gleichzeitig aber wachsen so zum einen die Kosten des Klimawandels. Zum anderen sinkt zum Beispiel durch die Förderung fossiler Industrien wie Verbrennerautos der Anreiz für die Unternehmen, in grüne Technologien und damit in Zukunftsmärkte wie E-Mobilität zu investieren, die zunehmend China erobert. Zölle gegen China wiederum schützen die deutschen Unternehmen zwar vor Konkurrenz, allerdings darf man es sich mit der zweitgrößten Ökonomie der Welt nicht verscherzen.

Der globale Investitionsboom ist vorüber, heute herrschen in vielen Branchen Überkapazitäten und Nachfragemangel.

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In ihrem Bestreben, den Weltmarkt für mehr deutsches Wachstum zu nutzen, bleibt der Koalition also zunächst nichts übrig, als an allen verfügbaren Stellen die Bedingungen für Investoren zu verbessern, um so die »Wettbewerbsfähigkeit« des Standortes zu erhöhen. Dass dies automatisch zu mehr Wachstum führt, ist lediglich in den volkswirtschaftlichen Modellen der Fall. In der Realität kann sich zeigen, dass die »Bedingungen für eine wettbewerbsfähige und wachsende Volkswirtschaft« (Koalitionsvertrag) nicht identisch mit einer realen Wachstumsbeschleunigung sind.

Davon lässt sich die Politik allerdings nicht entmutigen. Absehbar ist daher erstens, dass die Bevölkerung künftig nicht nur zu mehr Arbeit und höherer Produktivität angehalten wird, sondern auch zum Verzicht bei Sozialleistungen, die bei den Unternehmen unter »Lohnnebenkosten« firmieren. »Der Koalitionsvertrag lässt leider jegliche Anstrengungen vermissen, das Ausgabenwachstum in der Rentenversicherung zu begrenzen«, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter. Im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung bestünden »Leerstellen in Bezug auf dringend notwendige Reformen. Die Folge wird sein, dass die Sozialbeiträge weiter steigen. Damit werden die Bruttoarbeitskosten für die Unternehmen weiter steigen.«

Beim Sozialen dürfte also gespart werden. Dagegen ist für Aufrüstung mit der Reform der Schuldenbremse jede Summe verfügbar gemacht worden. Damit reagiert die Koalition nicht nur auf die wahrgenommene Bedrohung durch Russland. Sondern auch auf die Tatsache, dass die materiellen Grundlagen deutscher Macht – das Wachstum – zum Großteil abhängen von Entwicklungen jenseits der deutschen Grenzen, also im Bereich anderer Mächte. »Die Arbeitgeber begrüßen die Investitionen in die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes«, lobt die BDA den Koalitionsvertrag. »Die neuen geopolitischen Herausforderungen erfordern ein robustes Auftreten.«

Von der absehbaren Enttäuschung über die Ergebnisse der »Wirtschaftswende« der Koalition dürfte voraussichtlich vor allem die AfD profitieren. Denn wie alle rechten Parteien beklagt sie seit Langem und am lautesten eine existenzielle Krise der Heimat und verspricht eine radikale Wende. Im Angebot hat die Partei in dieser Hinsicht allerdings nichts – außer unfinanzierbaren Versprechen, einer aus dem »Leistungsprinzip« wachsenden Ungleichheit und der Zusage, die Lage Deutschlands zu verbessern, indem man Migrant*innen und das Ausland schlechterstellt.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190139.welthandel-worum-es-in-trumps-zollkrieg-geht.html?sstr=stephan|kaufmann