Keine Grand Tour ohne Neuerungen. Der 108. Giro d’Italia startet an diesem Freitag zum ersten Mal in Albanien. Das ist nicht unbedingt ein Radsportland. Albanien hat überhaupt nur eine Handvoll aktive Radsportler, die in dieser Saison auf Club-Niveau, also der vierten Kategorie, Rennen austrugen. Bekanntester Fahrer ist der elffache Landesmeister Ylber Sefa, der bei einem zweitklassigen belgischen Team aktiv ist, das in diesem Jahr keine Chance auf eine Giro-Teilnahme hatte.
Im Startland wird auch ganz offen kommuniziert, dass die Grande Partenza vor allem ein Werbeevent für die Reisebranche[1] ist. »Das ist eine hervorragende Gelegenheit, unser schönes Land 800 Millionen Zuschauern bei 200 Fernsehsendern, die vom Giro berichten, zu zeigen«, sagte etwa Premierminister Edi Rama bei der Präsentation der Rundfahrt. Er hob Tiranas Flughafen als den »am schnellsten wachsenden in Europa« hervor, der mittlerweile auch das frühere Drehkreuz Belgrad in den Schatten stelle. Für Großfestivitäten ist auch das einstige Aufmarschgelände des Skanderbegplatzes mitten in Tirana geeignet. Dort fand am Mittwoch auch die Teampräsentation statt. Sieben Millionen Euro lässt Albanien sich die dreitägige Giro-Stippvisite kosten. Cristiano Ronaldo als Werbeträger wäre teurer, scherzte Premier Rama in Anspielung auf das Engagement des Portugiesen in Saudi-Arabien.
Ein wenig hakte es trotzdem bei der Organisation vor dem Start. Die Präsentation der Giro-Strecke wurde wegen »organisatorischer Probleme« immer wieder verschoben. Auch ein Plan B mit dem Auftakt in Süditalien kursierte. Doch am Ende konnten die 23 Rennställe ihre Fahrer und Betreuerstäbe wie geplant ins einst maoistisch abgeschottete Land bringen.
Beste Aussichten, das rosa Trikot auch beim Abschluss in Rom zu tragen, haben der vormalige Sieger Primož Roglič[2] und der Spanier Juan Ayuso. Beide eint die Nähe zum Vorjahressieger Tadej Pogačar. Roglič ist Landsmann des Slowenen, war zu Beginn von dessen Karriere so etwas wie der ältere Bruder, steht aber mittlerweile im Schatten des stets lächelnden Superstars. Ayuso hingegen fährt in Pogačars Rennstall UAE Emirates. Er soll die Siegestrophäe nach Pogačars Sieg[3] in der vergangenen Saison im Haus halten.
Der junge Spanier und der slowenische Routinier lieferten sich bereits im Frühjahr bei der Katalonien-Rundfahrt ein packendes Duell. Zunächst kämpften sie um jede einzelne Bonussekunde, bevor dann Roglič auf der Schlussetappe im Pogačar-Stil mit einem 20 Kilometer langen Solo die Gesamtwertung klarmachte. »Die junge Generation zwingt uns ältere zur Umstellung. Früher hieß es bei Grand Tours immer nur: ›Kräfte sparen, Kräfte sparen, Kräfte sparen.‹ Jetzt geht es aber schon am ersten Tag und 100 Kilometer vor dem Ziel zur Sache«, beschrieb der 35-jährige Slowene die Entwicklung[4] in seinem Sport. Er klang dabei sogar vergnügt. Umstellungen ist der frühere Skispringer ja gewohnt. Und Roglič scheint sogar neue Motivation daraus zu schöpfen.
Für Ayuso hingegen stellt die Italien-Rundfahrt die erste große Gelegenheit dar, aus dem Schatten seines Teamkapitäns zu treten. »Jeder von uns muss die wenigen Chancen nutzen, die es gibt, wenn Tadej nicht bei einer Grand Tour startet«, sagte der Spanier im Winter zu »nd«. Und er kündigte vollmundig an, der beste Radsportler der Welt werden zu wollen, besser also auch als Pogačar. Das ist tapfer gebrüllt. Jetzt beim Giro muss er liefern. Unterstützt wird er vom erfahrenen Briten Adam Yates[5] und dem mexikanischen Toptalent Isaac del Toro[6]. Beide könnten auch als Ersatzkapitäne infrage kommen, falls Ayuso seiner Favoritenrolle nicht gerecht wird.
Beim Team Red Bull-Bora-hansgrohe sieht es ähnlich aus. Für Plan B und C im Falle eines Rückschlags bei Roglič stehen der frühere Giro-Sieger Jai Hindley und der letztjährige Zweite Dani Martinez bereit. Den Kampf um den dritten Podestplatz dürften der Brite Simon Yates, der Spanier Mikel Landa und der Kanadier Derek Gee austragen. Schwer einzuschätzen ist die Verfassung der früheren kolumbianischen Giro-Sieger Egan Bernal und Nairo Quintana.
Erste Aufschlüsse dürfte der bergige Auftakt in Albanien bringen. Eine größere Herausforderung stellt auch die 9. Etappe in der Toskana mit Schotterabschnitten dar. Topfavorit Roglič darf sich über einen Ausflug in die slowenische Heimat freuen (14. Etappe). Entscheidend für die Gesamtwertung wird dann aber die dritte Woche, unter anderem mit der Kraxelei über den Mortirolo (17. Etappe) und den Colle delle Finestre (20. Etappe). Gleich zwei Zeitfahren spielen dem früheren Olympiasieger Roglič ins Blatt. Die insgesamt 51 000 Höhenmeter sehen den Kletterer Ayuso im Vorteil. Alles ist angerichtet für eine schöne Rundfahrt. »Die Strecke stellt die Leinwand dar, auf der die Künstler mit dem Rad ihre Akzente setzen«, sagte mit feinem Hang zu schönen Bildern Renndirektor Mauro Vegni.
Zehn deutsche Fahrer sind ebenfalls mit Farbtuben ausgestattet. Sie dürften aber bestenfalls für die Hintergrundmalerei zuständig sein. Nico Denz etwa soll Roglič helfen. Die kletterstarken Georg Steinhauser und Marco Brenner dürfen auf Ausreißercoups setzen, während die endschnellen Max Kanter und Niklas Märkl auf möglichst viele Sprintentscheidungen hoffen.