Am Berliner Bebelplatz steht auf einer Gedenktafel aus dem Jahr 1983: »An diesem Platz vernichtete faschistischer Ungeist die besten Werke der deutschen und der Weltliteratur.« Am 10. Mai 1933 hatten die Nazis die Bücher von politisch unliebsamen Autoren auf einen riesigen Scheiterhaufen geworfen. Es erwischte Bücher von Ernest Hemmingway, Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, Maxim Gorki, Bernhard Kellermann, Egon Erwin Kisch, Ilja Ehrenburg ...
Schon sehr lange werden an den Jahrestagen auf dem Bebelplatz Texte der damals betroffenen Schriftsteller vorgelesen. Sie sollen nicht doch noch in Vergessenheit geraten, wie es die Faschisten wollten. Die Linksfraktion im Bundestag und die Rosa-Luxemburg-Stiftung organisieren dieses traditionelle Lesen gegen das Vergessen[1].
»Den oft gehörten Satz, die Geschichte wiederholt sich nicht, kann ich nicht so richtig glauben«, mahnt die ehemalige Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch[2] (Linke) am Samstag. Sie kümmerte sich seit Jahren um dieses Veranstaltung und tut es nun noch ein letztes Mal. Die Bücher seien von Studenten ins Feuer geworfen worden, sagt Lötzsch.
Aber es gab damals auch Studenten, die »heimlich Bände aufrafften, die vor ihren Füßen im Dreck lagen, und sie nicht ins Feuer warfen, sondern unter die Uniformjacke steckten, daheim lasen und wie Kostbarkeiten aufbewahrten«. So haben sie es später dem Schriftsteller Erich Kästner erzählt, der 1933 vor Ort das nicht mit eigenen Augen sah, aber erlebte, wie Propagandaminister Joseph Goebbels auch seinen Namen rief und Kästners Bücher den Flammen überantwortete. Dass sich einige Studenten heimlich widersetzten, »mag ein Zeichen dafür sein, wie schwer es ist, Bücher wirklich zu verbrennen«, berichtete Erich Kästner 1947. Er beschrieb Goebbels in jenem Jahr rückblickend als einen, der im Feuerschein gestikulierte, zeterte und salbaderte wie ein Teufel.
Kästners Schilderung des Geschehens trägt am Samstag die Schauspielerin Ruth Reinecke vor. Sie liest: »Hier rächte sich ein durchgefallener Literat an der Literatur. Hier beseitigte ein durchtriebener Politiker für viele Jahre jede intellektuelle Opposition.« Tatsächlich hatte Goebbels Germanistik studiert und sich erfolglos als Schriftsteller versucht, bevor er unter Adolf Hitler Karriere machte. Der erfolgreiche Kinderbuchautor Erich Kästner wurde auf dem heute Bebelplatz heißenden Opernplatz am 10. Mai 1933 von einer Frau erkannt. Die zeigte mit der Hand auf ihn und rief: »Da steht ja Kästner!« Der wich nicht sofort, entfernte sich aber nach einer Weile, geschockt von dem, was er gesehen hatte.
Schauspielerin Ruth Reinecke ist bereits 70 Jahre alt, auch wenn man ihr das nicht ansieht. Schauspieler Björn Harras ist mit seinen 41 Jahren noch vergleichsweise jung. Er liest auf dem Bebelplatz aus dem »Kommunistischen Manifest«. Denn die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels landeten 1933 auch in den Flammen. Sie waren »gefährlich, weil sie Unterdrückung beim Namen nannten«, wendet sich Harras an sein Publikum. Mehrere hundert Menschen haben auf Stühlen und Sitzbänken vor ihm Platz genommen und hören zu, wie Harras aus dem »Kommunistischen Manifest« zitiert: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen ...« Als der 41-Jährige mit der ausgewählten Passage fertig ist, sagt er noch mit eigenen Worten: »Totalitäre System fürchten das freie Wort« und »Lasst uns die Bücher lesen, die man uns verbrennen will«.
»Den oft gehörten Satz, die Geschichte wiederholt sich nicht, kann ich nicht so richtig glauben.«
Gesine Lötzsch Ex-Bundestagsabgeordnete
Es lesen außerdem die Schriftsteller Ingo Schulze und Katja Oskamp sowie einige andere Künstler. Die Schauspielerin Carolin Haupt beispielsweise »leiht ihre Stimme« – so sagt sie – der Autorin Marieluise Fleißer. Sie liest deren Text »Der Venusberg«, eine Erinnerung an das im Krieg zerstörte Theater von Ingolstadt. Die Nazis hatten einst ein Theaterstück und einen Roman von Fleißer auf die Liste des unerwünschten Schrifttums gesetzt.
Zwischendurch singt auf dem Bebelplatz der Ernst-Busch-Chor und Douglas Vistel spielt Cello. Mit einem von Vistels Auftritten endet das Programm nach reichlich anderthalb Stunden. Dann wird noch der Stand des Kleinen Buchladens aus dem Karl-Liebknecht-Haus belagert. Der Buchladen muss Ende des Monats nach 35 Jahren schließen[3]. Hier aber finden noch etliche am Stand angebotene Bücher einen neuen Besitzer. So kauft ein Passant Alfred Döblins berühmten Roman »Berlin Alexanderplatz« von 1928 – antiquarisch in einer Auflage des DDR-Verlags Rütten & Loening. Auch diesen Roman warfen die Faschisten einst ins Feuer. Doch das Buch ist seither keineswegs aus des Welt verschwunden. Dieses Meisterwerk wird bis heute gedruckt und gelesen.
Außerdem gibt es am Samstag noch eine dezentrale Aktion auf dem Walter-Benjamin-Platz in Berlin-Charlottenburg. Es beteiligt sich ein Dutzend junger Leute. Sie lesen zwei Stunden lang Werken von Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Anna Seghers, Johannes R. Becher und Erich Kästner. Diese Nachricht übermittelt dem »nd« am Sonntag der nicht mehr so junge Bezirksverordnete Rüdiger Deißler (Linke), der bei dieser dezentralen Erinnerung an die Bücherverbrennung eine Rede gehalten hatte.
Das nächste Lesen gegen das Vergessen auf dem Bebelplatz in Mitte soll es am 10. Mai 2026 geben. Exakt ein Jahr vorher konnten die Besucher jetzt auf einer Tafel Wünsche aufschreiben, welche Texte dann vorgetragen werden sollten. Gewünscht werden etwa Sigmund Freuds »Die Traumdeutung«, Heinrich Manns »Professor Unrat« und Stefan Zweigs im Exil geschriebene Autobiografie »Die Welt von Gestern«, die 1942 kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde.