Auf »Bild«-Schlagzeilen wie diese konnte man warten wie auf das Amen in der Kirche: »Schlimmer Israel-Hass auf dem Linke-Parteitag[1]« titelte das Boulevardblatt am Samstag. »Israel« sei »beschimpft« worden, Delegierte seien mit »Palli-Tuch« aufgetreten. Ein solches Tuch trugen in der Tat viele Genoss*innen auf dem Chemnitzer Delegiertentreffen am 9. und 10. Mai. Sie wollten damit Solidarität mit den Palästinensern zeigen, die laut Ankündigung des israelischen Sicherheitskabinetts[2] aus dem Gazastreifen vertrieben werden sollen, deren Lebensgrundlagen dort seit 19 Monaten zerstört und die aktuell durch eine mehr als sechswöchige Blockade von Hilfslieferungen gezielt ausgehungert werden.
Tatsächlich wurde auf dem Parteitag auch über Antisemitismus diskutiert – insbesondere darüber, wie Antisemitismusvorwürfe durch Politik und Institutionen instrumentalisiert werden, um Menschen mundtot zu machen, die israelische Kriegsverbrechen anprangern. Überraschend verabschiedeten die Delegierten kurz vor dem Ende der Konferenz eine Resolution zum Thema. Die Mehrheit dafür war knapp: 213 Delegierte stimmten dafür, 181 dagegen, 48 enthielten sich.
Zuvor hatte sich der Ko-Vorsitzende der Linken Jan van Aken deutlich dagegen ausgesprochen, die Erklärung »Antisemitismus, Repression und Zensur bekämpfen – Jerusalemer Erklärung umsetzen, tragfähiges Fundament schaffen!« zu beschließen. Der Grund: Darin wird gefordert, die Jerusalemer Deklaration zum Antisemitismus (JDA) vom Juni 2020, unterzeichnet von rund 370 renommierten Antisemitismus- und Holocaustforschern, Historikern und anderen Wissenschaftlern, zur Grundlage der parteiinternen Bekämpfung von Judenhass zu machen.
Wie die JDA selbst wendet sich die Parteitagsmehrheit damit gegen die Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der Internationalen Allianz zum Gedenken an den Holocaust, International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die den Antisemitismusbegriff auf sehr viele israelkritische Aussagen anwendet. Beziehungsweise eigentlich nicht gegen die IHRA-Definition selbst, sondern deren Nutzung für Behördenentscheidungen.
»Wir sind Antifaschisten auf der Seite des jüdischen Lebens, aber wir sind auch auf der Seite des Lebens in Palästina.«
Özlem Alev Demirel Linke-Europaabgeordnete
Im Parteitagsbeschluss wendet sich Die Linke gegen die Praxis, die IHRA-Definition »in Kommunen, Behörden und Bundestagsbeschlüssen« als verbindlich vorzuschreiben, »um Zugänge zu Räumen und Fördermitteln zu kontrollieren« sowie »Geheimdienstkontrollen, Personenüberprüfungen und Bekenntniszwänge« zu legitimieren. Die Definition habe sich »zu einem repressiven Instrument entwickelt, um unliebsame Kritik und politischen Protest zu verhindern«. Davon seien auch viele Jüdinnen und Juden betroffen.
Die Linke stellt sich mit dem Beschluss auch gegen die im Bundestag verabschiedeten Resolutionen »Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken« und »Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern«, deren Grundlage ebenfalls die IHRA-Definition ist. Letztere wurde im Januar beschlossen[3], die Gruppe Die Linke enthielt sich bei der Abstimmung.
Jan van Aken empfahl eine Ablehnung des Antrags, weil sich der Parteitag im Oktober in Halle ausdrücklich auf keine Antisemitismusdefinition festgelegt habe. »Ich bin dagegen, dass wir qua Parteitagsbeschluss eine wissenschaftliche Debatte beenden, das können wir nicht tun«, sagte er. Die Europaabgeordnete Özlem Alev Demiral betonte demgegenüber, die IHRA-Definition sei »keine akademische Frage, sondern eine konkrete Frage für tausende Menschen« in der Palästina-Solidarität. Mit ihrer Hilfe werde Solidarität als antisemitisch diffamiert. »Wir sind Antifaschisten auf der Seite des jüdischen Lebens, aber wir sind auch auf der Seite des Lebens in Palästina«, betonte die Politikerin.
Zuletzt wurde auf dem Parteitag noch ein Dringlichkeitsantrag mit dem Titel »Vertreibung und Hungersnot in Gaza stoppen – Völkerrecht verwirklichen!« beschlossen. Eingebracht hatten ihn unter anderem die Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik und der Studierendenverband DieLinke.SDS. Der Bundesvorstand hatte ihn sich, leicht bearbeitet, zu eigen gemacht.
»Die Aufregung, die wir über Wassermelonen-Emojis, weiß-rot-grüne Hände und eingezeichnete Landesgrenzen haben, würde ich mir in Bezug auf die angekündigte ethnische Säuberung des Gazastreifens durch die Israelischen Streitkräfte eher wünschen.«
Daniel Eliasson Grünen-Politiker
Er bezieht sich auf den wenige Tage zuvor vom israelischen Sicherheitskabinett beschlossenen Plan zur »Einnahme« Gazas, der eine erneute militärische Besatzung und die »Umsiedlung« der gesamten Bevölkerung vorsieht. Die Linke verurteilt in dem Beschluss das »Aushungern der Zivilbevölkerung als Methode zur Beschleunigung der nachhaltigen Zerstörung aller Lebensgrundlagen und dauerhaften Zwangsvertreibung der Palästinenser*innen« scharf. Zugleich fordert sie eine »sofortige ausreichende humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, den Wiederaufbau der Zivileinrichtungen und Infrastruktur, insbesondere Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und religiösen Stätten«.
Auch die Freilassung der seit dem Überfall palästinensischer Terroristen vom 7. Oktober 2023 noch immer in der Gewalt der Hamas befindlichen israelischen Geiseln wird gefordert. Die Kriegsverbrechen »aller Seiten und internationalen Player« müssten aufgeklärt werden. Voraussetzung dafür sei »ein sofortiger und dauerhafter Waffenstillstand im gesamten Gebiet von Palästina und Israel und ein (vollständiger) Rückzug der israelischen Armee aus Gaza«. Die militärische Unterstützung Israels durch die Bundesregierung müsse sofort beendet werden.
Gegen dieses Papier gab es aus der Partei heraus keinen Widerspruch. Heftige Kritik erntete dagegen die Resolution zu den Antisemitismusdefinitionen. Die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss nannte sie auf X »fatal«. Die Mehrheit habe entschieden, dass Die Linke sich nicht mehr »gegen jeden Antisemitismus« stelle. Die Jerusalemer Erklärung werde von Experten der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) als »unbrauchbar« eingeschätzt, weil sie »weder die Negierung des Existenzrechts Israels noch Formen der Shoa-Relativierung, die Israel mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen« als antisemitisch gefasst würden.
Die frühere Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau pflichtete König bei, auch ihr Amtsnachfolger Bodo Ramelow rügte den Beschluss auf X. Die frühere Bundestagsabgeordnete Marina Renner schrieb auf Bluesky, es gehe dabei nicht um Definitionen, »sondern darum, Personen und Gruppen vom Antisemitismus-Vorwurf freisprechen zu können, um weiter kooperieren zu können«.
Der Streit über Antisemitismus und vermeintlichen Antsemitismus von Personen aus palästinasolidarischen Gruppen war schon einige Tage vor dem Chemnitzer Delegiertentreffen wieder aufgeflammt. Er hatte sich an einem Post von Ulrike Eifler[4], Gewerkschafterin und Mitglied des Parteivorstands, entzündet. Mit dem Schlagwort »Free Palestine« versehen, hatte sie auf X ein Bild gepostet, das den Umriss von Israel und den palästinensischen Gebieten zeigt, vollständig bedeckt von Handabdrücken in den Farben der palästinensischen Flagge.
Die Darstellung sei nichts anderes als der Wunsch nach »Auslöschung« Israels und einer Vertreibung seiner Bewohner, kritisierten viele Genoss*innen ebenso wie die israelische Botschaft. Kurz darauf, am 8. Mai, distanzierte sich der Vorstand in einem Beschluss von »jedem Aufruf, jedem Statement und jedweder bildlichen Darstellung, die unter dem Deckmantel der Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung die Existenz Israels negiert oder die Auslöschung Israels propagiert« und forderte die Parteimitglieder auf, »derartige Darstellungen nicht zu veröffentlichen und bereits veröffentlichte umgehend zurückzuziehen«.
Erinnert wird an den Parteitagsbeschluss von Halle, in dem sich Die Linke solidarisch mit den Palästinensern erklärt, die Freilassung der israelischen Geiseln fordert und den Terrorismus der Hamas ebenso verurteilt wie »jede völkerrechtswidrige Kriegshandlung der israelischen Armee«. Bundesgeschäftsführer Janis Ehling schrieb auf X, wer meine, sich nicht an die entsprechende Beschlusslage der Partei halten zu müssen, »sollte sich fragen, ob er in der richtigen Partei ist«.
Eifler erfährt indes auch breite Solidarität, öffentlich geäußert unter anderem von der Bundestagsabgeordneten Nicole Gohlke und der Ex-Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl. Etliche Unterstützer stellten dabei auch das Bekenntnis der Linken zum Existenzrecht Israels in Frage. Es gebe kein Existenzrecht für Staaten, sondern nur eines für Menschen, und das der Palästinenser gelte Israel derzeit nichts mehr, heißt es.
Auf ähnliche Weise verteidigte auch Eifler ihren Post in einem Interview[5]. Sie findet es »irritierend, dass einige Mitglieder meiner Partei in diesen Post die Auslöschung Israels hineininterpretieren, statt das Leid in Gaza darin zu sehen«. Die Distanzierung des Parteivorstands findet sie »skandalös«. Statt zu fragen, wie man sie angesichts Diffamierungskampagnen und angedrohten Anzeigen unterstützen könne, gebe es ein »autoritäres Anweisen von Löschungen«. Sie findet es gleichwohl »richtig, dass der Parteivorstand sich von der Position, Israel solle ausgelöscht werden, distanziert«. Austrittsaufforderungen will sie nicht nachkommen.
Es gibt indes auch Personen außerhalb der Linken wie etwa den Berliner Grünen-Kommunalpolitiker Daniel Eliasson, selbst Jude, die Skandalisierungen wie im Fall von Eifler ablehnen. »Die Aufregung, die wir hier über Wassermelonen-Emojis, weiß-rot-grüne Hände und eingezeichnete Landesgrenzen haben, würde ich mir in Bezug auf die angekündigte ethnische Säuberung des Gazastreifens durch die Israelischen Streitkräfte eher wünschen«, schrieb Eliasson auf X.