Ich dusche lange und heiß, hole mir einen Kaffee und lege Claudias Stein auf meinen Tisch.
Claudia starb zwischen Weihnachten und Silvester. Schlaganfall, Koma, Tod. Ich erfuhr es im Januar, glauben kann ich es erst heute, am ersten Maitag, als ich durch den Friedwald[1] bei Bernau laufe. Irgendwo hier wurde die Urne mit Claudias Asche beigesetzt.
Claudia hat sich vor zwei Jahren bei mir gemeldet. Ob wir uns treffen wollen, wir würden uns von früher kennen. Ich ahnte, wer sie war. Die schöne Blonde aus Potsdam, mit der ich mich angefreundet hatte im Herbst 1989, im Frauengefängnis Hohenleuben[2]. Wir waren viele. Sie saß dort, weil sie ein Jahr zuvor 19-jährig von einer überraschend genehmigten Reise nach Westberlin nicht zurückgekehrt war und im Frühjahr darauf mit einem Freund nach Schweden fahren wollte. Transit[3]. Auf dem Hafengelände in Sassnitz befahl man ihr, aus dem Auto zu steigen. Claudia stieg aus. Das erzählte sie nicht gerne, sie hätte wissen können, dass man wegen eines illegalen Grenzübertritts, wie die DDR es nannte, auch nachträglich belangt wurde. Man musste der Person nur habhaft werden, zum Beispiel auf dem Grund und Boden der DDR.
Ich laufe durch den Mischwald, der sich über leichte Hügel ergießt, Pfade führen zwischen den Bäumen hindurch, Moos und Laub bedecken weichen Boden. Schwarze Plastikschildchen verraten, wer unter den Bäumen begraben liegt. Namen und Daten, manchmal von einem Aphorismus begleitet. Grabschmuck ist nicht erlaubt, Herzen aus Kiefernzapfen und Steine schon. Als ich meinen mitgebrachten Halbedelstein unter einer Kiefer platzieren will, die auf ihrem Hügel unter Sonnenflecken sehr besonders aussieht, zischt es. Eine Blindschleiche ringelt davon.
Noch Kilometer weiter habe ich den Stein in der Hand. Auf der Landstraße saust der Verkehr vorbei, Radler umkurven mich. Claudia büßte ein halbes Jahr dafür, ausgestiegen zu sein. Gesprochen habe sie nie davon, erzählte sie mir bei unserem ersten Treffen. Ende Oktober fuhren wir nach Jena zur Premiere eines Films[4] über inhaftierte Jugendliche in der DDR. Claudia begann gerade aufzuarbeiten, was ihr passiert war. Sie liebte ihren Job, ihren Sohn und ihren Hund, anderes blieb fragil. Sie war nach Wannsee gezogen, ich sollte sie im Frühjahr besuchen. »Schön, dass wir uns wieder gefunden haben,« schrieb Claudia in ihrer letzten Nachricht.
Ich erreiche das Freibad Bernau[5], frisch saniert wirkt es wie gemalt: fetter Rasen, Umkleide-Kabinen, Duschen, Lehr- und Sprungbecken, fünf 50-Meter-Bahnen, Schachspiel, Sonnensegel, Beachvolleyball-Feld, Imbissbude, Eis und Pommes. Nur die Kälte ist ein Schlag ins Gesicht. Meine Stirn brennt, ich halte die Luft an und bin versucht, sofort aus dem Wasser zu steigen. Nach zehn Metern steuere ich die nächste Leiter an. Jugendliche stürmen zu den Sprungtürmen, der Blick eines Mädchens streift mich, einen Hauch anerkennend. Jetzt kann ich unmöglich aufgeben. Ich schwimme zum Bahnende, unterdrücke das Japsen und drehe mich auf den Rücken, während das Mädchen kreischend springt. Nach zwei Bahnen kann ich normal atmen.