nd-aktuell.de / 12.05.2025 / Kultur / Seite 1

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein

Die Philosophie-Zeitschrift »Der blaue Reiter« wird 30. Ein Gespräch mit Chefredakteur Siegfried Reusch

Interview: Frédéric Valin
Klassiker, bitte kommen: Sokrates und seine Schüler
Klassiker, bitte kommen: Sokrates und seine Schüler

Herr Reusch, was ist Philosophie?

Philosophie ist für mich die theoretisch gefasste Frage nach dem Menschen. Philosophen sind letztlich Meister der Verunsicherung, weil sie gelernt haben, die richtigen Fragen zu stellen, ohne aber konkrete Lösungen vorzuschlagen. Letztlich ist Philosophie immer ein gekonntes Scheitern. Im Leben scheitert jeder, denn noch niemand hat das Leben überlebt. Aber wenn es ein gekonntes Scheitern war, das heißt, wenn man sich mit den wichtigen Fragen des Lebens auseinandergesetzt und einen eigenen Weg durch das Leben gefunden hat, dann war es ein philosophisches Leben. Und dazu gibt es viele verschiedene Ansätze und Perspektiven.

Entsprechend ist die Redaktion unseres Journals keiner Denkschule verpflichtet. Wir versuchen die ganze Breite der Philosophie verständlich aufzubereiten, aufzuzeigen, was gedacht wurde, was zurzeit gedacht wird und was denkbar ist. Aber die Leser müssen letztlich selbst entscheiden, welcher der vorgestellten Theorien sie folgen wollen, oder besser noch sich selber ihre eigenen Denkwege suchen.

Besteht der berühmte »Sinn des Lebens« vielleicht darin, ihn zu suchen?

»Der Weg ist das Ziel« wäre eine mögliche Antwort, auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die vor allem von Denkern aus dem asiatischen Raum und von Buddhisten gerne gegeben wird. Aber Philosophie ist nicht dazu erfunden worden, die lebenspraktischen Probleme der Menschen zu lösen. Der Beginn eines Studiums der Philosophie ist in aller Regel nicht der Beginn einer großen Karriere, sondern vielmehr der Beginn einer persönlichen Tragödie.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist das ureigenste Geschäft der Religionen, die diesen zumeist in ein Jenseits verlagern, welches es sich auf Erden durch Wohlverhalten zu verdienen gilt. Friedrich Nietzsche zufolge benötigen nur schwache Menschen einen solchen, durch andere, zum Beispiel von Priestern, vorgegebenen fremden Sinn.

Warum auch sollte das Leben an sich überhaupt einen Sinn haben? Womöglich gar einen Sinn, der für alle Menschen der gleiche ist? Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens würde ich eher antworten, dass der Sinn des Lebens darin besteht, dem eigenen Leben auch seinen eigenen Sinn zu geben. Ein gelungenes Leben bemisst sich nicht an äußeren Parametern wie Geld, Berühmtheit, Erfolg etc., sondern vor allem daran, wie zufrieden jemand selbst mit dem ist, was er in Abhängigkeit von seinen Möglichkeiten, den jeweiligen Lebensumständen und den daraus sich ergebenden Widerständen aus seinem Leben gemacht hat.

Sie sind von Ihrer Ausbildung her Chemiker. Wie kamen Sie zur Philosophie?

Ich habe Chemie studiert, um zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das war meine durchaus naive Fragestellung an das Studium. In der Schule hatte ich immer wieder mit Lehrern zu tun, die vieles nicht wussten, und weil sie sich keine Blöße geben wollten, oft ausweichend antworteten – dachte ich zumindest. Aber die Professoren der Chemie an der Universität konnten meine grundsätzlichen Fragen auch nicht beantworten, schlicht weil man viele grundsätzliche Dinge tatsächlich nicht weiß. Allerdings hatten sie weniger Schwierigkeiten, das zuzugeben.

Ich habe in Ulm studiert, das war ursprünglich eine rein medizinische Hochschule. Es wurden auch Hilfswissenschaften gelehrt, Physik zum Beispiel oder eben auch Chemie. Als der Lehrermangel offensichtlich wurde, richtete das Land einen Lehramtsstudiengang ein, für den Professor Giel als Pädagoge nach Ulm kam. Als Geisteswissenschaftler war er etwas verloren zwischen all den Naturwissenschaftlern und wollte auch nicht einsehen, dass es eine Universität ohne philosophische Fakultät gab. Er hat sich dann mit Professor Pauschinger zusammengetan, der als theoretischer Physiker in der Medizin Physiologie lehrte, und das Humboldt-Studienzentrum gegründet, an dem man dann in Ulm bis zum Vordiplom Philosophie studieren konnte, unter der Bedingung, dass man in der Medizin oder einer Naturwissenschaft eingeschrieben ist. Was ich auch gemacht habe.

Das war alles zusätzlich zum Chemiestudium, also Wochenendseminare und Vorlesungen in den Semesterferien. Da kamen schon besondere Leute zusammen, und aus diesem Kreis entstand dann die Idee für den »Blauen Reiter«. Wir wollten unsere Begeisterung für die Philosophie in ein breiteres Publikum tragen. Wir haben dann Professor Obermeier, der am Humboldt-Studienzentrum Philosophie lehrte, gefragt, ob er uns einen Artikel zum Thema Philosophie als gekonntes Scheitern schreibt. Er wollte wissen, was wir eigentlich vorhaben, und bat mich, ihm ein Konzept zu schreiben. Das habe ich gemacht, und als ich ihn das nächste Mal getroffen habe, hat er mir einen Umschlag mit 10 000 DM überreicht, als Startkapital. Und dann haben wir gesagt: Ja, dann machen wir das eben richtig.

Und sind Sie gekonnt gescheitert mit dem »Blauen Reiter«?

(lacht) Das kann man so sagen, ja. Ich habe das Glück, dass meine Frau den Lebensunterhalt verdiente und ich mich als Hausmann tagsüber um die Kinder kümmern konnte, um dann abends, nach meinem Diplom in Chemie in Philosophie zu promovieren und mich um das Journal zu kümmern. Es ist ja auch heute noch so, dass ich mit dem »Blauen Reiter« kein Geld verdiene – mit dem, was wir einnehmen, kann ich gerade mal die administrativen Tätigkeiten bezahlen. Für uns als Redaktion ist »Der blaue Reiter« Selbstverwirklichung, aber auch Bildungsprogramm. Trotzdem zählt das Journal zu den meistgelesenen Philosophie-Zeitschriften im deutschsprachigen Raum.

Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?

Das war im Grunde ein Studentenulk, es stand kein Marketing-Konzept im Hintergrund. Die Metaphorik spielte natürlich eine Rolle: Blau ist bei der Künstlergruppe Der Blaue Reiter um Franz Marc und Wassily Kandinsky die Farbe des Geistigen und der Reiter die Metapher für das Kämpferische. Und als Philosophen in einer naturwissenschaftlichen Fakultät brauchten wir ein wenig Durchsetzungswillen – wo kein Geist ist, muss man halt dafür kämpfen. Außerdem ging es uns ja von Anfang an ums Scheitern: Und wer ist gekonnter gescheitert als Don Quichotte? Und so fügte sich der ganze Name zusammen. Rückblickend war das eine gute Entscheidung, der Titel zieht mehr Interesse auf sich als »Journal für Philosophie« oder Ähnliches.

In den digitalen Medien sind Sie ja kaum zu finden.

Wir arbeiten durchaus multimedial, wir verbinden in den Ausgaben Kunst mit Texten, wir machen auch Bücher, wir haben eine CD mit Nietzsches Kompositionen produziert. Aber es stimmt, die digitalen Medien liegen unserer Herangehensweise nicht so sehr. Für uns war die Ruhe des Lesens, das tiefe Lesen immer wichtiger: Deswegen erscheint das Journal im Print, deswegen drucken wir im Innenteil bewusst schwarz-weiß, deswegen illustrieren wir die Artikel nicht mit Bildchen, sondern arbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen.

Ich habe den Eindruck, dass der Raum für eigenes Denken in den modernen Zeiten fehlt. Das ist allerdings eine alte Klage: Auch Nietzsche hat darauf hingewiesen, dass Beschäftigung mit Kultur auch Arbeit ist, nicht nur Unterhaltung. Für die notwendige Tiefe und den erforderlichen Ernst ist in kurzen Videoformaten kein Raum. Philosophie braucht aber eine gewisse Langsamkeit: An einer Ausgabe arbeiten wir an die drei Jahre. Man rettet sich auch nicht, wenn man sich einem Zeitgeist anbiedert. Man muss wissen, was man ist, was man will und was man kann. Und wenn das auf Resonanz und Interesse stößt, dann freut uns das, wenn nicht, dann müssen wir auch damit leben und dennoch unseren Interessen und Neigungen irgendwie folgen. Nach wie vor gilt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Haben Sie den Eindruck, das Leben ist für Philosoph*innen komplizierter geworden?

Das würde ich so nicht sagen. Für Philosophen außerhalb der Universitäten war das Leben schon immer schwierig, auch in der Antike. Platon, Aristoteles, das waren alles vermögende Leute. Als ich in jungen Jahren eine Berufsberatung aufgesucht habe und sagte, dass ich Philosophie studiere, meinte die Beraterin zu mir, dass das ein Heiratsfach wäre, das ein vernünftiger Mensch nur dann studieren würde, wenn er jemanden zu ehelichen gedenke, der einen ordentlichen Beruf ausübe und Geld verdiene. Für mich hat sich das sogar bewahrheitet. (lacht) Aber Geld verdienen ist mit dieser Beschäftigung immer schon schwer gewesen, daran hat sich auch nichts geändert. Es gibt aber immer noch eine Horde Spinner wie mich, die jenseits der ökonomischen Zwänge arbeiten können.

Es gibt jedoch Menschen, die recht gut mit Philosophie verdienen, die aber auch gleichzeitig etwas scheel angesehen werden. Richard David Precht etwa.

Richard David Precht macht einen sehr guten Job, wenn er Philosophie erklärt. Es kann schon sein, dass es, wenn er Philosophie vermittelt, mitunter etwas flacher wird, aber auch das hat seine Berechtigung. Er holt die Menschen da ab, wo sie stehen. Ich weiß nicht, was schlecht daran sein sollte, philosophisches Denken verständlich darzustellen. Kompliziert ist immer einfacher.

Es gibt leider durchaus eine akademische Arroganz der Fachphilosophen, nicht nur gegen sehr erfolgreiche Publizisten wie Precht oder Rüdiger Safranski; auch wir erleben das immer wieder. Als wir angefangen haben, galten wir manchen als »Bild-Zeitung der Philosophie«, weil wir auch Straßenumfragen machen und erklärende Glossare neben den Texten platzieren. Außerdem ist unsere Art der Philosophie an den Universitäten gerade nicht en vogue, die aktuelle analytische Philosophie geht schon stark in Richtung Mathematik. Wir sind aber überzeugt davon, dass die sogenannten großen Fragen sich ganz unabhängig vom Zeitgeist immer stellen und sich die Auseinandersetzung damit lohnt.

Welches Fazit würden Sie für sich persönlich ziehen nach 30 Jahren »Blauer Reiter«?

Mir ging es immer um die Freude am Denken, und das durfte ich nun viele Jahre erleben. Das ging natürlich auch mit Opfern einher, finanzieller Art einerseits, aber auch vielen durchgearbeiteten Nächten. Ich möchte das einmal so bilanzieren: Mein Weg mit der Philosophie hat mir finanziell nichts eingebracht, was mir das Finanzamt jährlich sogar schriftlich bescheinigt, aber er hat mir viel erspart.