Parentifizierung nennt man es, wenn Eltern Kindern Aufgaben und Verantwortungen übertragen, die nicht kindgerecht sind. Der Begriff stammt aus der Psychotherapie und spiegelt den Fokus, den diese Art der Störungsbeschreibung festschreibt: Es geht rein um das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Parentifizierung identifiziert ein gestörtes Familienverhältnis.
Aber ist das so einfach? Anne würde vermutlich sagen: Ja. Anne ist eine der beiden Hauptfiguren in »Die erste halbe Stunde im Paradies« der Flensburger Autorin Janine Adomeit. Anne macht Karriere in einem Pharmaunternehmen und ist ansonsten so weit es geht weg von sich: Gefühle stören, Zwischenmenschlichkeiten nerven – und wenn es stimmt, dass jeder Mensch eine Insel ist, dann wäre sie gern ganz weit draußen im Pazifik. Jetzt aber ist sie auf einer betriebsinternen Tagung und wird ein Referat zum Thema opioidbasierte Schmerztherapie halten, das es ihr vielleicht erlauben wird, von den Außen- in den Innendienst zu wechseln. Das wäre auch ein Karrieresprung, aber vor allem: Homeoffice, noch weniger Menschen.
Dann aber ruft ihr Bruder Kai an, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat; das letzte Mal war eine zufällige Begegnung in einem Park. Er war betrunken, sie rannte weg. Sie hat ihm nichts zu sagen, und er weiß das auch, aber er hat keine Wahl. Er hat gerade einen Entzug hinter sich gebracht und braucht für zwei Tage einen Unterschlupf, bevor er seinen neuen Wohnplatz beziehen kann. Und weil ihm sonst nicht viele Verbindungen geblieben sind, hat er aus Verzweiflung seine Schwester angerufen.
Als Kinder waren sie eng, sehr eng. Sie hat zu Kai, der sieben Jahre älter ist, ja auch immer aufgesehen, denn er war alles für sie: Schutz, Trost, Halt, Inspiration. Er war maßgeblich dafür verantwortlich, dass ihr Zuhause Annes Happy Place war, obwohl sie – von außen betrachtet – eine schwierige Kindheit hatte.
Schätzungsweise eine halbe Million Minderjähriger pflegt aktuell in Deutschland Familienangehörige.
Die Mutter ist schwer erkrankt, Multiple Sklerose, und verliert nach und nach ihre motorischen Fähigkeiten. Sie ist Sängerin und stand vor den ersten schwerwiegenden Schäden auf den großen Bühnen. Nach der Erkrankung ist sie mit ihren beiden Kindern nach Flensburg gezogen und hält sich mit Gesangsunterricht und kleineren Auftritten über Wasser. Bei ihr verläuft die Krankheit galoppierend. Aus Angst, dass das Jugendamt ihr die Kinder wegnimmt, sucht sie sich keine Hilfe und versucht, die Auswirkungen der verschiedenen Lähmungen möglichst zu vertuschen. Also ist sie auf die Hilfe der Kinder angewiesen, auf ihre verschwiegene Komplizenschaft, ebenso wie darauf, dass sie auf sie achtgeben – später dann: pflegen, duschen, halten, sich sorgen.
Diese Erzählebene spielt im Jahr 2000. Sie beschreibt die Lebenswirklichkeit vieler junger Menschen, auch heute noch. Schätzungsweise eine halbe Million Minderjähriger pflegt aktuell in Deutschland Familienangehörige, und auch wenn es zwischenzeitlich kurz einmal so ausgesehen hat, dass die Politik mehr Rücksicht auf pflegende Angehörige nimmt, hat die Pandemie hier jede Illusion zerstört: Ausnahmslos wurden alle Kinder zurück in die Schulen getrieben, ohne Rücksicht darauf, in welchem familiären Umfeld sie sich bewegen, um sich dort unter rudimentären Schutzmaßnahmen möglichst schnell durchseuchen zu lassen. Die Mutter hat mit ihrer Vorsicht und Ahnung, außer den Kindern niemanden zu haben, völlig recht: Behinderte Eltern gelten, das haben spätestens die Maßnahmen deutlich gezeigt, nichts.
Der fortwährende Druck fräst sich durch das Bewusstsein der Kinder: von innen jener der Krankheit; von außen die ausbleibende Hilfe und die Angst, aus der Familie genommen, von der geliebten Mutter getrennt zu werden. Manche der Versuche, die Situation zumindest in der Schwebe zu halten, sind nachgerade verzweifelt: Als die Lähmungen die Beine der Mutter in Mitleidenschaft ziehen, läuft Anne jeden Tag ein paar Hundert Schritte mehr als notwendig, um sie auf das Bewegungskonto der Mutter einzuzahlen; damit sie noch ein paar mehr Schritte machen kann im Leben. Liebe auf Kredit.
Zu Beginn der Sommerferien im Jahr 2000 soll die Mutter eine Reha absolvieren, die einige Wochen dauern wird. Kai, so denkt sie es sich, kann währenddessen auf seine jüngere Schwester aufpassen. Aber der sonst so zuverlässige und aufopferungsvolle Kai, gerade 18 geworden, hat andere Pläne: Er heuert auf einem Schiff an, des Abenteuers, aber auch der Liebe wegen. Er versorgt seine jüngere Schwester mit kiloweise Junkfood und haut ab.
Anne, elf Jahre alt, sitzt allein in der Wohnung und stiert sich durch den Tag. Glücklicherweise bricht die Mutter die Reha nach zwei Tagen ab; als sie aber davon erfährt, dass Kai einfach abgehauen ist, wirft sie ihn raus. Bald darauf kommt Anne zum leiblichen Vater nach Berlin, den sie zuvor kaum einmal gesehen hat. Mit Kai wird sie auf Jahre kaum Kontakt haben, der Vater (der nicht Kais Vater ist) unterbindet jeden Kontakt.
Derart aus dem Leben gerissen, verpuppt sich Anne und wird zu dieser alles kontrollierenden Businessfrau, die scharf und unbarmherzig auf die Welt schaut, für die sie sich nicht verantwortlich fühlt: Verantwortlich ist sie allein für sich selbst. Als Kai anruft, will sie nicht rangehen; als er sie um Hilfe bittet, ist sie nur genervt. Sie wird ihn schlussendlich doch abholen. In einer Zusammenfassung wie dieser hier klingt Kai zwar nach einem Klischee: zu viel Verantwortung in der Kindheit, dann Drogen und der Absturz.
Aber Janine Adomeit hat hier keine Karikatur geschrieben. Im Roman erscheint Kai auch nicht als gescheitert; im Vergleich zu Anne hat er die Vergangenheit emotional viel umfassender aufgearbeitet als seine in ihrem Trauma verharrende Schwester. Der Drogenabhängige hat den klareren Blick als die Karrierefrau, kann aber mit diesen Erkenntnissen nicht viel bewegen: So setzt sich die Hilflosigkeit der Kindheit und Jugend im Erwachsenenalter fort.
Janine Adomeit gelingt es, all diese Konflikte und Verwerfungen nicht zu dramatisieren, sie erzählt keine Elendsgeschichte. Bis zu diesen unseligen Sommerferien wächst Anne etwa trotz der sie bisweilen überfordernden Verantwortung behütet und geliebt auf. Die Mutter hätte schlicht ein wenig mehr Hilfe gebraucht; jene Sorte Hilfe, die der Sozialstaat noch heute behinderten Eltern regelmäßig verwehrt.
Eine der Stärken des Buches ist es, dass Janine Adomeit entgegen dem aktuellen Trend zur Autofiktion diese hochpolitische Geschichte nicht als Schlüsselloch-Reportage geschrieben hat, sondern tatsächlich als Roman. Dadurch gelingt es ihr, Figuren zu zeichnen, die leicht neben sich stehen und nie mitleiderregend wirken.
Anne zum Beispiel kommt zurecht; ihre Tragik ist, dass sie auch glücklich sein könnte, wenn es ihr erlaubt gewesen wäre. Dass sie später nicht von selbst darauf kommt, eine Verantwortung für andere zu haben, sie vielmehr aus ganz egoistischen Gründen an etwas derart Gefährlichem wie der Verbreitung eines Fentanyl-Pflasters mitarbeiten will, illustriert die Verelendungsspirale, die entsteht, wenn ganze Personengruppen aus den Hilfesystemen ausgeschlossen werden.
Janine Adomeit: Die erste halbe Stunde im Paradies. Arche-Verlag, 272 S., geb., 23 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191157.janine-adomeit-der-druck-fraest-sich-ins-bewusstsein.html