Die Linke hat auf ihrem Parteitag mit knapper Mehrheit beschlossen, die Antisemitismus-Definition der von Ihnen mitentwickelten »Jerusalem Declaration« (JDA)[1] zu übernehmen. Worin unterscheidet sich diese von der Definition der »International Holocaust Remembrance Alliance« (IHRA), [2]die auch vom Zentralrat der Juden befürwortet wird?
Zunächst gibt es zwischen beiden Definitionen viel Übereinstimmung. Sie stehen aber symbolisch für zwei Lager. Die JDA versucht die formalen Schwächen der IHRA-Definition zu überwinden: ihre Widersprüchlichkeit, Unklarheit. Und gibt Hilfestellung im Kontextwissen zu israelbezogenem Antisemitismus. Die IHRA lässt sich meines Erachtens recht leicht gegen eine legitime Kritik an Israel instrumentalisieren.
Das heißt, beide bewerten vor allem unterschiedlich, ob antizionistische Kritik an Israel per se antisemitisch ist?
Beide unterscheiden zwischen antisemitischer und nicht antisemitischer Kritik an Israel. Aber bei den Beispielen der IHRA geht alles durcheinander. Da stehen viele Dinge, die je nach Kontext antisemitisch sein können – oder auch nicht. Viele Anwender nehmen diese dann pauschal als Kriterien für Antisemitismus. Hier führt die JDA eine sehr wichtige Unterscheidung ein: Dinge, die per se antisemitisch sind (etwa alle Jüdinnen und Juden für Israels Handeln in Haftung zu nehmen), und solche, die nicht per se antisemitisch sind, es aber je nach Umständen durchaus sein können – wie stark ablehnende Haltungen gegenüber dem Staat Israel. Man kann Israel ablehnen, weil man Antisemit*in ist und glaubt, Juden könnten kein produktives Staatswesen aufbauen. Das kann man aber auch aus bestimmten ultraorthodoxen jüdischen Perspektiven oder aufgrund linker, antinationaler Kritik oder schlicht, weil man als Palästinenser*in schlimme Erfahrungen mit der Besatzung gemacht hat. Übrigens ist die Frage, ob diese Kritik angemessen oder inhaltlich richtig ist, noch einmal unabhängig davon zu führen.
Sie haben als Antisemitismusforscher an der Jerusalemer Erklärung mitgearbeitet. Warum?
Weil nicht mehr mit anzusehen war, dass eine widersprüchliche und zum politischen Missbrauch einladende Definition sich überall ausbreitet und einen quasi-gesetzlichen Status bekommt. Wir wollten schlicht etwas Besseres vorlegen, etwas mit Hand und Fuß. Und etwas, das keine nahostpolitische, israelfreundliche Positionierung in Gestalt einer Antisemitismusdefinition ist. Wir wollten damit auch wieder Debatten ermöglichen.
Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow meint, die Linke hätte die Entscheidung Wissenschaftlern überlassen sollen.
Ich bin da hin und her gerissen. In Anbetracht der demokratiefeindlichen Tendenzen eines autoritären Anti-Antisemitismus finde ich den Beschluss des Parteitages in der Sache natürlich gut. Angesichts der unversöhnlichen Positionen ist so ein Abstimmungssieg aber von begrenztem Wert. Man merkt das an dem teils völlig uninformierten Social-Media-Gebrüll der IHRA-Fans, die nur Antisemitismus wittern. Dieser Antrag hätte einen langen und vor allem breiten und kontroversen Diskussionsprozess benötigt. Allerdings ging es darin nicht nur um die Definition, sondern auch eine Abgrenzung vom Missbrauch der IHRA und um eine Haltung gegen die autoritären Maßnahmen des besonders von AfD und CDU propagierten Anti-Antisemitismus.
Der Zentralrat der Juden hat den Linke-Beschluss scharf kritisiert. Gleichzeitig gibt es in der jüdischen Diaspora viele Antizionisten, die sich viel mehr Kritik an Israel wünschen. Wie sollte sich die Linke positionieren?
Beiden zuhören und dann strikt universalistisch handeln: interessiert an einem guten Leben für alle Menschen. Das war in der Geschichte der Linken leider nicht immer selbstverständlich. Und das wird ein oft schmerzliches Agieren in Widersprüchen bleiben. Auch hier gilt also: Fortsetzung der Debatte ist wichtiger als Deklaration von Positionen.
Wie lässt es sich erklären, dass so viele rechtsextreme Parteien trotz ihres Antisemitismus gute Beziehungen zu Israel pflegen?
Erstens ist der antimuslimische Rassismus der globalen Rechten sehr ausgeprägt. Zweitens hofft die Rechte sich durch eine Unterstützung Israels vom eigenen Antisemitismus reinwaschen zu können. Und drittens lässt sich der Vorwurf des israelbezogenen Antisemitismus sehr gut als Waffe gegen linke, woke oder postkoloniale Feinde einsetzen.