Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Dora Scholze 1945 der KPD beigetreten. Am Montagabend kurz nach 17 Uhr besucht der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi[1] (Linke) die mittlerweile 102-Jährige im Berliner Ortsteil Weißensee und gratuliert ihr zu 80 Jahren Parteimitgliedschaft. Dora Scholzes Sohn Sandro hat das eingefädelt. Sie selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, freut sich aber, Gysi mal persönlich kennenzulernen. »Ich habe schon bei so vielen Demonstrationen mit ihm gestanden.«
Anders als gedacht ist Dora Scholze aber noch nicht ganz 80 Jahre dabei, wie sie ihrem Besucher erklärt. Sie hat ihr erstes Mitgliedsbuch aufbewahrt. Das gut erhaltene rote Heftchen mit der Mitgliedsnummer 73088 weist als Eintrittsdatum den 10. August 1945 aus.
Warum sie sich damals mit 22 Jahren der KPD angeschlossen hat? »Das war die Erziehung meiner Eltern«, sagt Scholze. Die Eltern seien nicht in der Partei gewesen, »sie sympathisierten aber mit der KPD«. Soweit sich Scholze erinnert, gehörten Vater und Mutter wahrscheinlich der Roten Hilfe an und der Vater sei in der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) gewesen. In der Nazizeit machte Dora als einziges Mädchen in ihrer Schulklasse nicht bei dem Hitlerjugend-Pendant Bund Deutscher Mädel (BDM) mit. Ihre Eltern haben damals einen Juden in ihrem Häuschen im Berliner Ortsteil Heinersdorf versteckt, der dann in die Schweiz entkam. Ihre Mutter habe jüdischen Familien Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen aus dem Garten gebracht, berichtet Dora Scholze. Es war ein sehr bescheidenes Häuschen, in dem ihre Familie beengt und bis Ende der 1920er Jahre ohne Strom- und Wasseranschluss lebte. Doch während der Weltwirtschaftskrise mussten sie froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Damals zog manche Arbeiterfamilie auf ihre Kleingartenparzellen, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte.
In dem Häuschen in Heinersdorf lebte Dora Scholze seit ihrer Geburt und bis sie 1963 eine Wohnung in der Karl-Marx-Allee erhielt. Da war sie schon lange Russischlehrerin. Nur ein Jahr habe die Ausbildung gedauert und schon sei sie »auf die Kinder losgelassen« worden, erzählt Scholze. Sie konnte vorher kein Russisch und lernte die Sprache als Lehrerin noch zwei Tage in der Woche weiter, während sie an vier Tagen bereits Unterricht in der Schule erteilte. Zwischendurch war Scholze vier Jahre lang Lehrerin an der Parteihochschule der SED in Kleinmachnow. Dort lernte sie ihren Mann kennen, der an dieser Hochschule studierte und bei ihr Russisch hatte.
»Dass ich 1945 in die KPD eingetreten bin, das war die Erziehung meiner Eltern.«
Dora Scholze
Er ist vor 25 Jahren gestorben. Auch der älteste Sohn von Dora Scholze lebt nicht mehr. Aber sie hat ihren jüngeren Sohn Sandro, zwei Enkel und zwei Urenkel. Aus ihrer Wohnung in der Karl-Marx-Allee zog sie vor zwei Jahren aus, weil ihre Angehörigen sich sorgten, sie könne beim Duschen in der Badewanne ausrutschen und sich schwer verletzen. Das neue Quartier – zwei Zimmer, Kochecke, Bad und Balkon – ist barrierefrei.
Dora Scholze ist sehr bescheiden. Sie könnte viel erzählen – und erzählt von ihren Eltern, ihrer Schwester, ihrem Mann, ihren Kindern. Über sich selbst spricht sie fast nur auf Nachfrage. Gregor Gysi muss schon nach 20 Minuten wieder weg zu einem anderen Termin in Königs Wusterhausen.
Doch der mit ihm gekommene Linke-Landesvorsitzende Maximilian Schirmer[2] und die Pankower Bezirksvorsitzenden Enja Springob und Jonas Teune bleiben dann noch gut eine Stunde. Ihnen zeigt Dora Scholze gebundene Ausgaben des »Magazins für alle« von 1930. Eine der Titelseiten zeigt ein Foto von Lenin. Dieses Magazin war die Zeitschrift der KPD-Buchgemeinschaft. Das Rote Antiquariat bietet einzelne der zwölf Hefte dieses Jahrgangs für 20 Euro das Stück an. Es ist so gesehen ein kleiner Schatz, der da bei Scholze in der Wohnung steht. Er überdauerte die Nazizeit im Keller versteckt, zusammen mit anderen Büchern, von denen sich die 102-Jährige trennen musste, als sie vor zwei Jahren in die kleinere Wohnung zog.
Sie sei leider auf Hörgeräte angewiesen und manchmal falle ihr ein Wort nicht gleich ein, beklagt die 102-Jährige. Doch am Montag ist das kaum zu glauben. Sie spricht durchweg konzentriert und flüssig und ist nicht einmal aus dem Konzept zu bringen, wenn mehrere Personen durcheinander eine Frage an sie richten. Dass er mal ein Wort vergesse, das komme bei ihm auch vor, tröstet Maximilian Schirmer – und der ist schließlich erst 35 Jahre alt.
Der 77-jährige Gysi sagt zu Scholze: »Ich bin ja deutlich jünger als du und trotzdem der Alterspräsident im Bundestag[3].« Alle staunen, wie fit die Hochbetagte körperlich und geistig ist. Dass sie heute nicht mehr auf Demonstrationen gehen könne, sei doch nicht schlimm, sagt die Bezirksvorsitzende Enja Springob. Die Partei habe ja jetzt viele junge Mitglieder[4] gewonnen, die das gern übernehmen.
Seit ab 1946 die Zeitung »Neues Deutschland« erscheint, liest Dora Scholze das Blatt praktisch jeden Tag, wie sie versichert. Sie hat es abonniert. Montags erscheint das »nd« zu ihrem großen Bedauern schon eine Weile nur noch digital und seit Anfang Mai nun auch samstags. Dann greift Scholze zur freitags gelieferten Wochenendausgabe, die ja so dick sei, dass sie sowieso nicht alles gleich lesen könne.
Durch die Zeitungslektüre nimmt die 102-Jährige regen Anteil am Geschehen in der Welt. An sich eine lebensfrohe Frau, macht es sie doch traurig, was sich Schlimmes ereignet und wie bedroht der Frieden heutzutage wieder ist. »Die Kriege, das ist ja das Schlimmste, was es gibt«, sagt sie. Das ist zufällig ihr Schlusswort, als sich die letzten Gäste langsam verabschieden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191195.die-linke-dora-scholze-jahre-links.html