nd-aktuell.de / 13.05.2025 / Politik / Seite 1

Polen: »Sie wollen humanitäre Hilfe kriminalisieren«

Ein Gericht in Polen verhandelt gegen Aktivisten, die als »Hajnówka Fünf« bekannt sind – morgen ist letzter Verhandlungstag

Interview: Ulrike Wagener
Polen geht hart gegen Geflüchtete und ihre Helfer*innen vor. Am Mittwoch endet ein großer Prozess.
Polen geht hart gegen Geflüchtete und ihre Helfer*innen vor. Am Mittwoch endet ein großer Prozess.

Sie stehen in Polen vor Gericht, weil Sie Flüchtlingen Essen und Kleidung gegeben haben. 2021 waren Tausende Menschen über Belarus nach Polen eingereist, um einen Asylantrag zu stellen. Polen bewertete das als »hybriden Angriff«, sperrte die Grenzregion ab und reagierte mit brutalen Pushbacks. Wie bewerten Sie die Anklage gegen sich und die anderen vier Aktivist*innen – die »Hajnówka Fünf«?

Die Anklage war ein Schock für mich. Ich lebe im Białowieża-Wald an der Grenze zu Belarus. Viele Menschen dort haben, so wie ich, Geflüchteten geholfen, weil der polnische Staat nichts unternommen hat. Unsere Überzeugung war: Niemand darf in unserem Wald sterben. Deshalb haben wir unser Essen und unsere Zeit an Menschen in Not gegeben. Jetzt drohen uns dafür fünf Jahre Haft oder sogar noch mehr. Die Staatsanwältin hat uns mit Schmugglern verglichen. Das ist falsch. Wir geben den Menschen unser eigenes Essen und nehmen kein Geld von ihnen. Schmuggler arbeiten dagegen für Profit.

Wie kam es zu dieser Anklage?

2022 wurden zwei meiner Mitangeklagten in einem Auto mit drei Geflüchteten festgenommen. Sie sind Aktivist*innen, die beschlossen hatten, den Menschen im Wald zu helfen. Ich wurde dem Fall hinzugefügt, weil ich mit ihnen Kontakt hatte. Es ging damals um eine kurdische Familie mit sieben Kindern und einen Mann aus Ägypten. Ich habe ihnen Essen und Schlafsäcke gegeben und ihnen gezeigt, wo sie sich für eine Weile ausruhen können. Oft ging es den Geflüchteten im Wald schlecht, und es war die einzige Hoffnung, sie zum Arzt in der nächsten Stadt zu bringen. Wahrscheinlich hatten meine Mitangeklagten das vor. Wenn die Menschen im Wald geblieben wären, hätten sie gewaltsame Zurückweisungen erlebt.

Die nächste und wahrscheinlich letzte Gerichtsverhandlung ist am 14. Mai. Welches Urteil erwarten Sie?

Ich erwarte, dass man alle Beweise prüft. Ich habe niemandem etwas zuleide getan, ich habe nur Menschen geholfen. Ich hoffe, dass es ein gerechtes Verfahren sein wird. Ich weiß nicht, was der Richter denkt. Mein Gefühl ist, dass er nicht voreingenommen ist und offen für die Tatsachen, die auf dem Tisch liegen.

2021 hat die polnische Regierung das Grenzgebiet zu Belarus komplett abgeriegelt – auch Journalist*innen durften es nicht ohne Begleitung des Militärs betreten. Können Sie erklären, wie Sie in diesem Umfeld zur Flüchtlingshilfe gekommen sind?

Ich habe als Mitarbeiterin des Nationalparks viele, viele Stunden in diesem Wald verbracht. Ich habe dort gearbeitet, dort gelebt. Die Sperrzone war der Ort meines alltäglichen Lebens. Damals war es so: Du machst einen Spaziergang oder du bist unterwegs, um Familie zu treffen, und plötzlich triffst du verzweifelte, hungrige, kranke und unterkühlte Menschen. Am Anfang haben die Anwohner die Grenzbeamten gerufen, wenn sie Geflüchtete sahen. Aber dann haben sie wenige Tage später die gleiche Familie wieder getroffen und gemerkt, welchem Pingpong die Schutzsuchenden an der Grenze ausgesetzt waren. Es gab immer wieder Pushbacks. Dann haben sie die Grenzbeamten nicht mehr gerufen. Es war die Entscheidung jedes Einzelnen, wie man auf diese Situation reagiert. Ich habe mich entschlossen zu helfen.

Wie hat die regionale Geschichte Ihr Handeln beeinflusst?

Im Ersten Weltkrieg zogen sich die russischen Truppen aus Polen zurück und wendeten dabei die »Taktik der verbrannten Erde« an. Unsere Region wurde dabei komplett zerstört, fast vier Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen. Unsere Urgroßeltern überlebten nur, weil ein Fremder ihnen geholfen hat. Sie brachten uns bei, menschlich zu sein. Diese Geschichte hat unsere Region geprägt. Es gibt diese Redewendung: »Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.«

Wie reagieren die Menschen in Polen auf diesen Prozess?

Da habe ich mir wirklich Sorgen gemacht. Aber hier, wo ich wohne, habe ich sehr viel Unterstützung von meinen Nachbarn, Kollegen und Freunden. Das ist toll! Deshalb habe ich mich dafür entschieden, in diesem Prozess mit meinem ganzen Namen und mit Bild aufzutreten. Wenn Sie Leute in Warschau fragen, denken sie vielleicht anders darüber. Wer in einer schicken Wohnung in der Stadt lebt, kann sich über große politische Themen Gedanken machen. Hier bei mir zu Hause geht es aber nicht um Geopolitik, sondern um echte Menschen und ihr Leben.

Wie hat sich Ihr Alltag durch die Anklage verändert?

Es geht mir gesundheitlich nicht gut. Ich habe oft Kopfschmerzen und bin sehr gestresst. Die Geschichte hat 2022 begonnen – jetzt haben wir 2025, und für uns wird es nicht in ein paar Tagen enden. Aber ich habe nur ein Leben. Ich habe meine Kinder, meine alte Mutter, um die ich mich kümmern muss. Ich bin müde. Aber ich bin 56 Jahre alt. Ich wusste, dass meine Hilfe Konsequenzen haben könnte. Doch dass »mein Staat« sich auf diese Weise gegen mich wendet, hat mich sehr traurig gemacht.

Welche Auswirkungen hat der Prozess auf andere Menschen, die Flüchtlinge unterstützen wollen?

Es geht nicht einmal um die Unterstützung von Flüchtlingen. Ich denke, es geht darum, zu definieren, was als humanitäre Hilfe gilt. Es geht darum, ein Exempel zu statuieren. Die polnische Regierung will humanitäre Hilfe kriminalisieren. Sie wollen anderen Menschen zeigen: Macht das nicht. Das alles war nicht meine Idee. Mein ganzes Leben dreht sich um unser kulturelles Erbe, um den Naturschutz. Und dann waren diese Menschen plötzlich hier, und ich musste reagieren. Diese Anklage soll den anderen Menschen im Land zeigen, lieber nicht menschlich zu sein und stattdessen die Regeln des Landes zu befolgen.

Wie ist die Situation aktuell?

Die polnische Regierung hat eine Mauer an der Grenze zu Belarus gebaut, die mit Drohnen und speziellen Geräten überwacht wird. Es sind immer noch Migranten an der Grenze, aber sie werden von den Grenzbeamten und vom Militär gejagt und zurückgebracht. Wir »normalen Menschen« sehen hier in meiner Gegend keine Flüchtlinge mehr im Wald. Wir hören nur, wenn wieder eine Leiche im Sumpf gefunden wurde.

2023 wurde die rechtspopulistische PiS-Partei abgewählt. Die neue Regierung unter Donald Tusk (liberalkonservative Bürgerkoalition) hat 2024 das Asylgesetz 2024 ausgesetzt und will die Geas-Reform nicht umsetzen. Haben Sie das erwartet?

Ich muss sagen, es ist schlimmer als vorher. Als PiS an der Regierung war, war Adam Bodnar Bürgerrechtsbeauftragter und stellvertretender Leiter der polnischen Helsinki-Stiftung [Nichtregierungsorganisation zu Menschenrechten in Europa, insbesondere Polen]. Aktivisti*innen wie Grupa Granica haben ihn als jemanden gesehen, der ihnen hilft, Menschenrechte zu verteidigen. Jetzt als Justizminister und Generalstaatsanwalt hat er sich selbst dafür eingesetzt, uns vor Gericht zu bringen. Die Regierung macht jetzt das Gleiche wie unter der PiS, nur dass es niemanden mehr in der Politik gibt, der uns unterstützen würde.

Am 18. Mai finden die Präsidentschaftswahlen statt. Welche Rolle spielt Migration dabei?

Aus meiner Sicht ist es für Politiker gut, schlecht über Geflüchtete und Migrant*innen zu sprechen. Wer sagt: »Wir sind gegen Flüchtlinge«, steigt in den Wahlumfragen. Das ist eine Tendenz in ganz Europa.

Was möchten Sie den Menschen außerhalb Polens über Ihren Fall erzählen?

Wenn Menschen auf der Flucht einen Weg zu uns finden, egal aus welchem Grund, dann haben wir ganz normale Menschen nur eine Aufgabe: Wir müssen nach unserem Gewissen handeln. Wir müssen solidarisch miteinander sein – in unserer Nachbarschaft und auch gegenüber fremden Menschen. Ich versuche immer so zu leben, dass ich andere Menschen so behandele, wie ich selbst behandelt werden möchte. Die Politik ändert sich ständig: Das Wichtigste, was wir tun können, ist, uns zu informieren und uns daran zu erinnern, dass wir alle Menschen sind.