Man merkt, wie gut es der Autorin tat, noch einmal Freunde und Wegbegleiter um sich zu versammeln, Leserinnen und Leser, die sich an sie wandten, Interpreten ihrer Lieder – ja auch Briefe an mich sind enthalten. Aber dazu später. Weil es ja höchst persönliche Schreiben sind, nennt Gisela Steineckert ihre Adressaten nur mit ihren Vornamen. Niemand sollte sich vorgeführt fühlen und sich hinterher gar beschweren müssen. Ohnehin liest man dieses Buch ja, weil man etwas über die Autorin erfahren will.
Diese Woche, am 13. Mai wurde sie 94. Da kann sie nicht mehr kreuz und quer durchs Land von einer Veranstaltung zur anderen reisen. Auch wenn sie das noch so gerne tun würde. Da ist sie auch zu Hause schon mitunter auf Hilfe angewiesen. Die Arbeit an diesem Buch war ein Gemeinschaftswerk. Enkelin Laura half ihr, die Briefe aus 25 Jahren zu sichten und die interessantesten auszuwählen. Und das, man spürt es beim Lesen, muss eine große Freude gewesen sein. Denn jeder Brief stieß Erinnerungen an. Gegen das Alleinsein. Gisela Steineckert lebt in ihrer Wohnung, ihrem gewohnten Umfeld, aber sie ist nicht allein.
Tochter Kirsten, Enkelin Laura, Urenkelin Leni Marie und viele Freunde. Ihr Mann Wilhelm starb 2016. Wie schwer die Zeit war, als er an Parkinson erkrankte, als er erblindete und sich in seinem Wesen auch veränderte, sie macht daraus keinen Hehl. Überhaupt öffnet sie ihr Herz in ihren Briefen. Als Wilhelm krank wurde, haben beide sogar noch kirchlich geheiratet. Und dann mietete sie sich mit ihm zusammen ins Pflegeheim ein und begleitete ihn all die schweren Tage, sodass er in ihren Armen starb.
Wie Älterwerden auch tapfer sein bedeutet, erfahren wir beim Lesen. Und wie diese Tapferkeit wächst, indem man sich nicht in sich verkriecht, sondern anderen Menschen Zuspruch spendet. Das ist Gisela Steineckerts große Gabe: Andere ganz nah an sich heranzulassen, sich ihnen zu öffnen, ja in sie hineinzublicken. Davon leben auch ihre Gedichte und Lieder, die sie Sängerinnen und Sängern sozusagen auf den Leib geschrieben hat. 4000 Liedtexte, über 40 Bücher, zu DDR-Zeiten noch zehn Filmszenarien und fünf Hörspiele hat sie verfasst. Jürgen Walter, Dirk Michaelis, Veronika Fischer, Frank Schöbel – sie alle sind hier noch einmal versammelt, zusammen mit Egon Krenz, Walter Kaufmann[1] und anderen.
Das ist Gisela Steineckerts große Gabe: Andere ganz nah an sich heranzulassen, sich ihnen zu öffnen, ja in sie hineinzublicken.
Tonnenweise Papier hätten sie zusammen gesichtet, sagte Laura am Telefon. So eine Fülle an Material, das sonst brach gelegen hätte und das immer wieder zu sortieren war. Gisela Steineckert hat ja Tausende von Briefen geschrieben. Ein ganzes Leben ist darin. Die elende Kindheit mit einem trinkenden Vater und einer unzuverlässigen Mutter, die Kraft schon des kleinen Mädchens, daran nicht zu zerbrechen, sondern für sich zu lernen, wie sie alles anders machen würde. Sie gehört zu jenen, die den Krieg noch erlebt haben. Die also auch wissen, was das bedeutet und den »Einfachen Frieden«, wie ein besonders eingängiges Lied von ihr heißt, für so wichtig halten wie nur irgendwas. Die Zeit in der DDR mit Singebewegung[2], im Komitee für Unterhaltungskunst – immer wieder macht sie sich über die politischen Veränderungen seither Gedanken. Unablässig blitzen Erinnerungen auf, die man beim Lesen auch sortieren muss. Stets hat sie ihre Meinung gesagt: »Dass ich mich immer getraut habe, ganz zu leben und vor fast keinem Risiko zurückzuschrecken«, gibt ihr auch heute Kraft. »Ohne meine Irrtümer, ohne meine Erfahrungen, ohne meinen lebenslangen Blick und nimmermüdes Interesse an anderen Menschen, nur aus der Bildung heraus, das hätte nicht zugereicht.«
Briefbände von ihr hatte es schon 1984 und 1998 gegeben. Da schließen sich nun die Jahre von 1999 bis 2023 an. Das war wichtig, meint Laura, weil es ein Stück Zeitgeschichte ist und dieses Projekt ihr auch gut getan hat. Vom »Glücksgefühl des Erzählens« spricht sie und manchmal auch von Überforderung. Umarmungen in Gedanken. Eine liebevolle Ratgeberin ist sie. »Wenn ich etwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen« – was sie schreibt, habe ich auch mehrmals von ihr gehört.
Wir haben ja 2013 ein Gesprächsbuch zusammen gemacht: »Das Leben hat was«. Inzwischen ist es auch antiquarisch ausverkauft. Wie viele es gerne in ihren Händen hätten, höre ich immer wieder. Und ich flehe den Verlag an, es wieder aufzulegen. »Ich habe kein Ich für das Nichtstun entwickelt«, lese ich in ihrem Brief vom 16. Mai 2015 an mich. »Wenn ich nicht tätig bin, und sei es, dass ich in karger Zeit lese, dann bin ich niemand, dann verliere ich alles, was mich trägt, was neue Kraft aus mir herausholt, was Schmerzen vorübergehend wegnimmt, und was mir das Gefühl gibt, lebendig zu sein.« Also möge nach diesem Buch schon ein neues Projekt am Horizont auftauchen.
Gisela Steineckert: Wegen damals und heute. Neues Leben, 303 S., geb., 20 €.