Heilige Zerbröselung

»Opernzeit – Zeitopern« an der Volksbühne

  • Laura Naumburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine Frau stöhnt und schreit. Sie gebiert gebratene Hähnchen. Wir sind also an der Berliner Volksbühne und dort – Überraschung – in der Oper. Die neue Spielzeit des Hauses wird eine »Opernsaison« mit »Tosca«, Robert Schumanns »Faust«, Eisler/Brechts »Maßnahme«, den wiederaufzunehmenden »Meistersingern« und dem Kurzopern-Marathon »Zeitopern«. Mit diesem Projekt durften sich die Castorf-Fans unter den Opernregie-Absolventen der Musikhochschule »Hanns Eisler« direkt am heiligen Ort ausprobieren. Der Starrheit der Opernhäuser mit ihrer Heiligsprechung der Partituren konnten sie ausweichen in ein Haus, dem die Zerbröselung des Überkommenen mindestens ebenso heilig gilt.

So ergaben sich ein »Wozzeck« mit Chanson, ein »Chaplin-Ford-Trott« mit Kain und Lilith, eine »Witwe von Ephesus« in Badehosen. In allen Projekten frönten die Regisseure ihrem analytischen Ehrgeiz, der Partituren skelettiert, fragmentiert, filetiert. Ob die Werke in dieser Rosskur ihren auf das Wesentliche reduzierten Kern preisgeben oder gar überraschend neue Gedankenverbindungen zeigen würden, war nicht gewiss.

»Zeitoper«, ein Begriff der 20er Jahre. Komponisten wie Eisler, Weill, Hindemith, Hartmann oder Milhaud schufen aus Erneuerungslust und antibourgeoiser Protesthaltung experimentelle Kurz- und Kleinformen der Oper mit ironischem oder zeitkritischem Inhalt. Ein paar davon, dazu etwas Lehár als Mainstream und Bergs »Wozzeck« als erste atonale Oper: Das Wesentliche der 20er wollte man in der Volksbühne präsentieren.

Aus dem »Wozzeck« fügte sich tatsächlich eine kleine, feine musikalische Revue. Unter David Martons Regie spielten und sangen der hochmusikalische Schauspieler Max Hopp, die über erstaunliche Stimmbänder verfügende Jelena Kuljic und der Musiker Sir Henry. Im Studio soll eine »Wozzeck«- Einspielung mit Max Hopp in der Titelpartie entstehen. Aufnahmeleiter ist Sir Henry, der Orchesterpart kommt näselnd vom Band. Auftritt Jelena Kuljic in schwarzer Abendrobe. Sie ist Marie in Form einer existentialistischen Chansonette, singt Büchner-Text auf eine eigene Komposition, verwandelt sich in den Hauptmann. Sir Henry wird zum Doktor; zu dritt spielen sie, präzise differenziert, die wichtigsten Szenen des Stücks. Die drei mäandern musikalisch zwischen Bach und Berg und einigen Tropfen Romantik, karikieren dabei noch die Laber-Interviews großmäuliger Rundfunkleute mit Popstars, die keiner kennt, und kommen doch immer wieder auf »Wozzeck« zurück. Man ahnt nach der kurzen Stunde, Hopp wäre glänzend, bekäme er einmal den ganzen Büchner zu spielen, Kuljic könnte mit Sir Henry einen interessanten Abend füllen und David Marton fehlte es nicht an szenischer Fantasie, selbst wenn der Topf mit dem Bühnenblut einmal unverhofft leer wäre.

Im Großen Saal folgten »Wachsfigurenkabinett I« und »II« von Karl Amadeus Hartmann. Das beste war der Bühnenumbau dazwischen. Man sah Männern zu, die ihr Handwerk verstehen und stringent auf ein Ziel zuarbeiten. Teil I, inszeniert von Michael von zur Mühlen, kombiniert Hartmanns Satire auf banale Unterhaltung made in USA mit »Wir sind noch einmal davongekommen« von Thornton Wilder. Der Zusammenhang war lose und alles Musikalische, ein Quintett barbieförmig verkleideter Frauen, wurde von zappligen Schauspielern gnadenlos an die Wand gekreischt. Ein Live-Video mit der Absägung von Papas Bein passte dazu wie der Ketchup auf die Pommes.

»Die Witwe Ephesos«, eine Satire auf verkitschte Gefühligkeit, ließ Thorsten Cölle bei den Campern spielen. Das war auf dem Niveau der gleichnamigen Fernsehserie ganz lustig. Zuerst ging ein gewaltiger Regen von Gummi-Brathähnchen hernieder. Das darin herumstapfende drollig prollige Bühnenpersonal kontrastierte mit dem ordentlichen Gesang dreier Gehenkter und einer leichttröstlichen sportiven Witwe aufs Anmutigste. Auch das kleine Instrumentalensemble konnte sich hören lassen. Wer aber glaubt, in ambitionierten Opernhäusern ginge es dagegen langweilig zu, der irrt.

Wieder am 17.11.

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