nd-aktuell.de / 04.06.2025 / Berlin

Lehrer in Berlin: Ein Schritt vor dem Burnout

Zwei Drittel aller Lehrkräfte arbeiten mehr als vorgegeben

Marten Brehmer
Viele Lehrkräfte gehen bis ans Limit.
Viele Lehrkräfte gehen bis ans Limit.

Mit den Schülern den immergleichen Stoff durchgehen, mittags Feierabend machen und sich dann in monatelange Ferien stürzen – so stellen sich viele Außenstehende den Lehrerberuf vor. Die Realität sieht anders aus. »Mein Sohn fragt mich oft: ›Mama, warum arbeitest du immer?‹«, sagt Caroline Muñoz del Rio, Lehrerin an einem Oberstufenzentrum in Wedding. Meistens verbringe sie den ganzen Tag in der Schule, an ein bis zwei Tagen in der Woche müsse sie sich abends noch an den Schreibtisch setzen. Mindestens einen Tag am Wochenende arbeite sie zudem, nicht selten auch zwei. »Wir wollen unseren Job gut machen, aber wir wollen auch gesund sein«, sagt Muñoz del Rio. »Das muss doch beides möglich sein.«

Diese Erfahrung machen auch viele andere Lehrkräfte. Zwei Drittel der in Berlin tätigen Lehrer arbeiten zu viel. Das zeigt eine Studie der Universität Göttingen, die am Mittwoch im Haus der Bildungsgewerkschaft GEW vorgestellt wird. Durchschnittlich leisten Lehrkräfte demnach zweieinhalb Stunden Mehrarbeit in der Woche – verordnete Überstunden sind dabei schon abgezogen. Im Jahr summiert sich das auf 94 Stunden Mehrarbeit. Betrachtet man nur Schulwochen, liegt die Arbeitszeit demnach bei Vollzeitkräften bei 46,4 Stunden. 30 Prozent der in Vollzeit tätigen Lehrer arbeiteten mehr als 48 Stunden in der Woche[1].

Für die Studie haben 1200 Lehrkräfte mit einer App ihre Arbeitszeit dokumentiert. Teilgenommen haben Lehrer von 415 verschiedenen Schulen aller Schulformen, was 54 Prozent aller Schulen in Berlin entspricht. Erfasst wurde nicht nur die reine Arbeitszeit, sondern auch, welche Tätigkeiten während dieser ausgeübt wurden.

Der eigentliche Unterricht macht laut der Erfassung gerade mal ein Drittel der Arbeitszeit aus. Ein weiteres Drittel wird für die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts sowie Korrekturen aufgebracht. Sonstige Tätigkeiten, zu denen etwa Elterngespräche, Konferenzen und Verwaltungsaufgaben gehören, machten ein weiteres Drittel aus.

Im Vergleich zu anderen Bundesländern erreichen Berliner Lehrer damit einen Spitzenwert. Bei einer Erhebung in Sachsen aus dem Jahr 2022 etwa gaben nur 59 Prozent der Lehrkräfte an, über die vertraglich vereinbarte Zeit hinaus zu arbeiten. Besonders hoch ist die Arbeitsbelastung laut der Berliner Erhebung bei Schulleitungen, Gymnasiallehrern und Lehrkräften, die zwei Sprachen unterrichten. Relativ betrachtet leisten in Teilzeit tätige Lehrkräfte mehr Überstunden als Vollzeitlehrer.

»Die zu hohe Arbeitszeit ist nur die Spitze des Eisbergs«, sagt Thomas Hardwig, Forscher an der Universität Göttingen und einer der Autoren der Studie. »Die Mehrarbeit hat soziale Konsequenzen.« Lehrkräfte seien demnach überdurchschnittlich gefährdet, einen Burnout zu erleiden[2]. »Nur 20 bis 30 Prozent der Lehrkräfte befinden sich in dem, was man den Normalbereich psychischer Gesundheit nennen kann«, sagt Hardwig.

Dass die Lehrkräfte so viel arbeiten, liegt nach den Erkenntnissen der Studienautoren nicht am Lehrdeputat. Das sei in den vergangenen Jahren kaum gewachsen. Grund sei vielmehr, dass immer mehr außerunterrichtliche Tätigkeiten hinzukommen. »Der pädagogische Kernbereich nimmt immer weniger Raum ein«, sagt Studienautor Frank Mußmann. Lehrerin Caroline Muñoz del Rio sieht zudem die steigende Zahl von Schülern, »die vor besonderen Herausforderungen stehen«, als einen Grund für die Mehrbelastung. Dazu gehörten etwa autistische Schüler und Schüler, die traumatisiert sind.

»Wir wollen unseren Job gut machen, aber wir wollen auch gesund sein.«

Caroline Muñoz del Rio Lehrerin

»Anscheinend ist dem Senat Gesundheitsschutz ein wenig egal, weil es gerade noch funktioniert«, sagt die GEW-Landesvorsitzende Martina Regulin. »Aber es funktioniert nur auf Kosten der Lehrkräfte.« Sie fordert, dass der Senat selbst eine einheitliche Arbeitszeiterfassung einführen sollte. »Das muss umgesetzt werden – das ist Recht«, so Regulin. Schon 2019 habe der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Arbeitszeit erfasst werden muss. »Wir prüfen rechtliche Schritte«, kündigte Regulin an.

Wie aber können die Lehrkräfte entlastet werden? »Natürlich braucht es mehr Personal«, sagt Studienautor Thomas Hardwig. 1300 zusätzliche Vollzeitlehrkräfte wären notwendig, um die bislang geleistete Mehrarbeit auszugleichen, berechnet er. Es bräuchte aber auch Personal in anderen Professionen wie IT, Verwaltung oder Sozialarbeit, um Lehrkräften Arbeit abzunehmen.

Geht es nach ihm, müsste die Arbeitszeit von Lehrkräften komplett neu berechnet werden. »Das Deputatssystem führt offensichtlich zu einer Tendenz zur Mehrarbeit«, sagt Hardwig. Viele Aufgaben seien in den Deputaten nicht abgebildet. Kenne man die real aufgebrachte Arbeitszeit, könne man »zielgenaue Entlastungen realisieren«, so Hardwig.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190285.bildung-lehrer-vor-dem-burnout-letzte-option-reissleine.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186862.bildung-berliner-lehrkraefte-besonders-burn-out-gefaehrdet.html