nd-aktuell.de / 05.06.2025 / Wirtschaft und Umwelt

Es könnte Diphtherie sein

Das RKI sieht Hinweise auf einen bundesweiten Ausbruch. Ein besserer Infektionsschutz ist gefragt

Kurt Stenger
Wachsmodelle eines an Diphtherie erkrankten Kindes, ausgestellt im Hygiene-Museum Dresden.
Wachsmodelle eines an Diphtherie erkrankten Kindes, ausgestellt im Hygiene-Museum Dresden.

Als ein 16-jähiges Mädchen mit starken Halsschmerzen ein Krankenhaus in Brüssel aufsuchte, dachten die Ärzte an eine Rachentzündung und schickten die junge Frau mit einem Antibiotikum und einem Entzündungshemmer nach Hause. 24 Stunden später wurde sie mit Atemnot und Mandelschwellungen in die Notaufnahme eingeliefert. Selbst die operative Entfernung der Mandeln, künstliche Beatmung und später die direkte Sauerstoffzufuhr ins Blut konnten nicht verhindern, dass die zuvor kerngesunde junge Frau, die aus Pakistan stammte und rund vier Jahre in einer Flüchtlingskunterkunft gelebt hatte, sechs Tage später an Multiorganversagen starb. Erst posthum wurde die Diagnose gestellt: Diphtherie. Über den tragischen Fall wurde vor wenigen Tagen im Fachmagazin »Cureus« berichtet. Die Autorin Marie Berthet, Kinderärztin am Universitätsklinikum Saint-Luc, verband dies mit einem dringenden Warnhinweis an ihre Kollegen: »Eine frühzeitige Erkennung der klinischen Anzeichen ist für eine rasche und wirksame Behandlung unerlässlich. Die sofortige Verabreichung von Antibiotika und Anti-Diphtherie-Serum ist entscheidend, um das Risiko schwerer Komplikationen und der Sterblichkeit zu verringern.«

Dies ist durchaus brisant, denn zuletzt häuften sich die Fälle in der EU: Die Seuchenschutzbehörde ECDC registrierte seit 2022 insgesamt 359 Fälle, vor allem unter Geflüchteten. Zumeist als relativ harmlose Hautinfektion, einzelne aber im Bereich der Atemwege und mit schwerem Verlauf. In Deutschland hat das Robert-Koch-Institut (RKI) 126 Fälle registriert. Die oberste Bundesbehörde für den Seuchenschutz schrieb kürzlich in ihrem »Epidemiologischen Bulletin«, es gebe »Hinweise auf einen deutschlandweiten Ausbruch von Diphtherie«. Betroffen seien »insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen, darunter geflüchtete Menschen, Menschen in Wohnungslosigkeit, Menschen, die Drogen konsumieren, Ungeimpfte sowie ältere, vorerkrankte Personen«. Die Infektionsschutzbehörde treibt um, dass Ansteckungen jetzt auch im Inland geschehen. Zudem gab es Anfang des Jahres den ersten Todesfall seit 1997, einen ungeimpften Zehnjährigen im Havelland.

Die Krankheit ist in Deutschland in Vergessenheit geraten, da sie leicht zu verhindern und auch gut behandelbar ist. Maria Vehreschild, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, sieht einen problematischen Zusammenhang: »Das ist nach den Masern[1] die nächste Kinderkrankheit, bei der die Herdenimmunität versagt«, sagte die Medizinerin am Uniklinikum Frankfurt (Main) der »Apotheken-Umschau«. Es sei zu befürchten, »dass es nicht bei diesen Krankheiten bleiben wird, wenn sich immer weniger Menschen impfen lassen«.

Allerdings ist die Sache mit der Herdenimmunität nicht so eindeutig. Bei Diphtherie wurde früher eine Impfquote von 70 bis 75 Prozent für notwendig erachtet, um die Bevölkerung zu schützen, heute ist von 80 oder auch 85 Prozent die Rede. Auch sind die ermittelten Daten erklärungsbedürftig: So wird laut RKI bei 96 Prozent aller Kinder die Grundimmunisierung gegen Diphtherie begonnen. Laut Stiko-Empfehlung [2]soll sie nach drei Dosen im Alter von 15 Monaten vollendet sein, was aktuell erst bei 64 Prozent der Fall ist. Später sollen größere Kinder noch zweimal, Erwachsene alle zehn Jahre eine Auffrischimpfung bekommen. Ähnlich sieht es bei anderen Kinderkrankheiten aus: Bei den noch ansteckenderen Masern liegt die Quote trotz Impfpflicht bei 93,2 Prozent, während 95 Prozent als Ziel ausgegeben ist. 77 Prozent der Kinder sind rechtzeitig immunisiert. Das Robert-Koch-Institut schätzt generell ein, dass die Impfquoten bei Kindern auch nach Corona weiter auf einem hohen Niveau liegen, die Grundimmunisierungen aber häufig zu spät oder gar nicht abgeschlossen werden.

Bundesweite Durchschnittszahlen allein sind wenig aussagekräftig. Es gibt Regionen, insbesondere in Baden-Württemberg und Sachsen, mit deutlich niedrigeren Quoten. Das gilt auch für einige Subpopulationen, die schwer mit Impfkampagnen zu erreichen sind. Hier für Besserung zu sorgen und Desinformation entgegenzuwirken, wäre eine politische Aufgabe.

Sicher ist, dass hohe Impfquoten auch bei eigentlich besiegt geglaubten Krankheiten wichtig sind, wie der Blick über den Tellerrand zeigt: Laut WHO haben weltweit zuletzt noch 84 Prozent aller Kinder die empfohlene Drei-Dosen-Impfung erhalten, in vielen Regionen sind es deutlich weniger. Unterbrochene Impfungen in der Covid-Pandemie, Bürgerkriege, Impfskepsis und die Konzentration der Behörden auf bekanntere Krankheiten sind die Gründe. Und das hatte Folgen: Ende 2022 begann im Norden Nigerias ein Diphtherie-Ausbruch, der auf mehrere Nachbarländer in Westafrika und der Sahelzone übergriff, in denen oft schon die Masern grassierten. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sprach vom »heftigsten Diphtherieausbruch, der jemals auf dem Kontinent verzeichnet wurde«. Allein Nigeria verzeichnete seither 26 000 bestätigte Fälle und über 1300 Todesopfer, ein Drittel kleine Kinder. Der Ausbruch ist noch immer nicht beendet: Vor wenigen Tagen wurden im Bundesstaat Imo im Süden des Landes nach dem Tod mehrerer Kinder Schulschließungen verhängt.

Seinerzeit wurden Gegenmaßnahmen gestartet, darunter Impfkampagnen, denn rund zwei Drittel der Diphtherie-Patienten waren völlig ungeimpft. Doch die Pharmaindustrie konnte die große Nachfrage nicht annähernd decken. Und so sagte Dagemlidet Tesfaye Worku, Leiter des medizinischen Notfallprogramms von Ärzte ohne Grenzen in Côte d’Ivoire, ein Jahr nach dem Ausbruch: »Das Problem schlummert nun schon seit Monaten, und Hunderte von Menschen sind bereits gestorben.« Noch gravierender war und ist die extreme Knappheit des Antitioxins, um die vielen Erkrankten zu behandeln. Laut WHO wird dieses aktuell nur noch in Indien und Brasilien in kleinen Mengen hergestellt.

Es ist wie bei anderen Infektionskrankheiten: Geringe Verfügbarkeit und ungerechte Verteilung von Vakzinen und Medikamenten, marode Gesundheitssysteme, Armut und Bürgerkriege können für hohe Fallzahlen sorgen. Die Lage in Deutschland ist daher nicht vergleichbar, auch wenn das Antitoxin hier ebenfalls sehr knapp ist. Hierzulande geht es darum, Einzelfälle rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln. Das RKI empfiehlt den Gesundheitsämtern, die üblichen Maßnahmen wie Quarantäne, Identifikation von Kontaktpersonen und diesen bei Bedarf ein Impfangebot zu machen.

Ausbrüche werden erleichtert, wenn viele Menschen dicht gedrängt unter schwierigen Bedingungen und bei prekärer Gesundheitsversorgung leben müssen. Benedikt Spielberger, pädiatrischer Leiter der Flüchtlingsambulanz der Landesaufnahmestelle Freiburg, wies bereits Ende 2022 darauf hin, dass vielen jungen Geflüchteten ein ausreichender Impfschutz fehlt. Um die Lücken rasch zu schließen, sei bereits in den ersten Tagen nach der Ankunft in der Erstaufnahmeeinrichtung auch gegen Diphtherie zu immunisieren. Zudem solle bei Hautausschlägen oder Rachenentzündungen die Möglichkeit der Diphtherie in die Diagnose einbezogen werden. Die Vermutung von Spielberger und anderen, dass es ein erhöhtes Übertragungsrisiko auf der Flucht über die Balkanroute gebe, hat nun eine im »New England Journal of Medicine« veröffentlichte europaweite Studie bestätigt. Die Autoren gehen wegen der hohen genetischen Identität der untersuchten Diphtheriestämme von einer gemeinsamen Infektionsquelle entlang der Migrationsrouten aus.

Es brauche »grenzüberschreitenden Informationsaustausch und internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Ausbrüchen«, sagt Ko-Autorin Stefanie Schindler von der Österreichischen Agentur für Gesundheit und
Ernährungssicherheit. »Die Studie zeigt, wie wichtig es ist, sicherzustellen, dass der Impfschutz gegen Diphtherie bei allen Menschen auf dem neuesten Stand ist. Dies gilt insbesondere für gefährdete Bevölkerungsgruppen sowie Personen, die beruflich mit diesen Gruppen in Kontakt sind.«

Die Krankheit hatte in Deutschland lange niemand mehr auf dem Schirm. Das gilt für Bürger genauso wie für Ärzte und Infektiologen. Anfragen bei Experten blieben unbeantwortet, meist mit dem Hinweis, man habe leider »keine spezielle Expertise zu Diphtherie«. Das weiß auch das RKI, das mit seinem Hinweis vor allem eine Intention verfolgt: »dafür sensibilisieren, dass Diphtherie wieder vermehrt auftritt«.

Das kann schnell gelingen, wie das Beispiel Brüssel zeigt: Wenige Tage nach dem Tod der Patientin zeigte ihre Schwester ähnliche Symptome, schreibt Ärztin Marie Berthet. »Sie erholte sich aber nach der frühen Verabreichung von Anti-Diptherie-Serum schnell.«

Ausbrüche werden erleichtert, wenn viele Menschen dicht gedrängt unter schwierigen Bedingungen leben.

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Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190590.impfpflicht-steigende-quoten-der-masernfaelle.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186231.gesundheitspolitik-neuer-stiko-chef-reinhard-berner-advokat-der-kinder.html