nd-aktuell.de / 06.06.2025 / Kultur

ARD: Einmal war es doch schön

Die ARD feiert 75. Geburtstag. Ihre beste Zeit hatte sie vor vielen, vielen Jahrzehnten

Thomas Blum
Welches Fernsehprogramm hätten’s denn gern? Robert Lembke ließ von 1955 bis 1989 »Was bin ich?« fragen.
Welches Fernsehprogramm hätten’s denn gern? Robert Lembke ließ von 1955 bis 1989 »Was bin ich?« fragen.

Aus heutiger Perspektive waren es goldene Zeiten: Bis zur vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) forcierten Einführung des Privatfernsehens im Jahr 1984 existierten in der Bundesrepublik Deutschland erfreulicherweise nur drei öffentlich-rechtliche Fernsehprogramme: das 1950 eingeführte Erste Programm ARD, das 1963 auf Sendung gegangene, konservative Zweite Programm ZDF, und die werbefreien Dritten Regionalprogramme (Naturdokumentationen, Kleinkunst, »Dinner for One«, »Telekolleg«!), die eigentlich zur ARD gehörten. Die Finanzierung durch Gebühren sollte die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender sichern. Denn so waren sie nicht auf Steuergelder angewiesen.

Während das ZDF[1] sich zu einer Art halboffiziellem CDU-Reklamesender entwickelte (»Kennzeichen D«, »Aktenzeichen xy«, »ZDF-Magazin«), sich früh am Erfolg von RTL und SAT.1 orientierte und sich mit seinen sensationell beliebten Kitschproduktionen (»Das Traumschiff«, »Die Schwarzwaldklinik«) dem allgemeinen Trend zu Verflachung und Verblödung anschloss, blieb die ARD weitgehend ihrem Auftrag verpflichtet, die Zuschauer nicht nur zu unterhalten, sondern auch ausreichend »Beiträge zur Bildung, Information und Kultur« anzubieten. Blickt man heute in die teils hanebüchen sortierte ARD-Mediathek, wo man in derselben Rubrik (»Filme«) berühmte Filmklassiker (die meist nur in der unerträglichen deutschen Synchronfassung abzurufen sind) direkt neben ranzigen Degeto-Schnulzen findet und es einem nicht gerade leicht gemacht wird, sich zwischen »Schlagerparty – Das Beste XXXL« , Heimatkitsch (»Dahoam is dahoam«, »Odenwald hautnah«) und haufenweise Trash (»Tierärztin Dr. Mertens«, »Reiterhof Wildenstein«) zu entscheiden, gewinnt man nicht den Eindruck, dass die Programmverantwortlichen sich an diesen Auftrag erinnern.

Eine kurze Rückblende ins Jahr 1980: Das Internet lag noch in der fernen Zukunft. Es gab weder Videorecorder noch Homecomputer, weder Streamingplattformen noch Smartphones. Viele Menschen in der bundesdeutschen 3000-Einwohner-Gemeinde, in der ich aufwuchs, mussten, um zu telefonieren, noch das Haus verlassen und einen sogenannten Münzfernsprecher aufsuchen. Die modernsten Geräte im Haushalt meiner Eltern (Jahrgang 1924) waren ein Farbfernsehgerät und ein moosgrünes Wählscheibentelefon.

Die Welt war noch halbwegs geordnet, als man damals mit Mutter und Vater abends auf dem Wohnzimmersofa saß und genötigt war, gemeinsam mit ihnen die Quiz-Shows im »Ersten Programm« anzuschauen: etwa Robert Lembkes »heiteres Beruferaten«, eine traditionsreiche Sendung, die den Titel »Was bin ich?« trug. Deren knuffiger Moderator ließ zwei Männer und zwei Frauen, die aussahen, als habe man sie direkt vom Bingo-Abend des Seniorenheims in ein Fernsehstudio verfrachtet, die Berufe der eingeladenen Gäste erraten: Staubsaugervertreter, Kräuterhexe, Investment-Fondsmanager. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie nicht mit der Herstellung einer Ware beschäftigt sind?« Es war eine der beliebtesten Unterhaltungssendungen im deutschen Fernsehen: Von einer kurzen Unterbrechung von zweieinhalb Jahren abgesehen lief sie von 1955 bis 1989 in der ARD. Samstagabends begeisterte derselbe Sender das Fernsehpublikum mit Rudi Carrells »Am laufenden Band«, Joachim Fuchsbergers »Auf Los geht’s los« oder Hans-Joachim Kulenkampffs Quizshow[2] »Einer wird gewinnen«.

Von der NS-Vergangenheit wollte man schon damals möglichst nichts wissen. Dass Robert Lembke oder der »Dalli-Dalli«-Gastgeber Hans Rosenthal (ZDF) mit sehr viel Glück den Holocaust überlebt hatten, während Kulenkampff und Fuchsberger als Wehrmachtssoldaten zeitweise in der Sowjetunion eingesetzt worden waren, darüber wurde nicht gesprochen. Jetzt, 30 bis 40 Jahre nach Kriegsende, begegnete man ihnen ja allesamt auf demselben Fernsehbildschirm.

Man freute sich, wenn Kulenkampff, Großmeister der überzogenen Sendezeit, schelmisch lächelte, während er den Zuschauern verkündete, dass die nachfolgenden Sendungen voraussichtlich etwas später beginnen würden. Man fragte sich, welcher Preis sich wohl dieses Mal hinter dem mit einem großen Fragezeichen versehenen Würfel verbergen mochte, der stets am Ende von Carrells Sendung auf dem »laufenden Band« an dem verbliebenen Kandidaten vorüberzog. »Ein Staubsauger, das Bügeleisen, ein Kaffeeservice, ein … äh… Paar Skier … und das Fragezeichen!« Und man schmunzelte zufrieden, wenn Lembke jeden seiner Gäste, deren Berufe das »Rateteam« erraten sollte, fragte: »Welches Schweinderl hätten’s denn gern?«

Dank der internationalen Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus (»Marktwirtschaft«) und Sozialismus und der Existenz des sogenannten Ostblocks war der Westen zu jener Zeit noch genötigt, seinen Bürgern ein Minimum an Wohlstand, kultureller Teilhabe und sozialer Fürsorge zu garantieren, um der Weltöffentlichkeit zu beweisen, dass er das bessere und gerechtere Gesellschaftsmodell sei. Das Fernsehprogramm orientierte sich entsprechend an den Neigungen jener, die man die »untere Mittelschicht« nannte: Papa ging malochen, Mutti schmiss derweil den Haushalt und kümmerte sich um die Kinder. Abends versammelte man sich vor dem Bildschirm, um zu entspannen.

Im »Tatort« sah man den populären TV-Kommissaren Veigl (mit Hut und Krawatte) und Haferkamp (mit Trenchcoat und Krawatte) beim Ermitteln zu und dem alle fünf Minuten »Scheiße« sagenden Schimanski (in seiner abgewetzten Feldjacke der US-Army) beim Herumbalgen und Ungehobeltsein, seit den späten 80er Jahren drang mit Lena Odenthal sogar eine Frau in die Männerdomäne vor. In der von 1985 bis 2020 allsonntäglich versendeten »Lindenstraße«[3], der ersten deutschen Soap, die sich zur langlebigsten Fernsehserie des Landes entwickeln sollte, nahm man Anteil am Alltag der Beimers, Zenkers und Zieglers. Oder man empörte sich über den ersten im deutschen Fernsehen ausgetauschten Kuss zwischen zwei schwulen Serienfiguren, zu dem es 1990 kam.

Auch als eine Schulungsinstanz in Sachen Komik wurde die ARD zeitweise wirksam und brachte ein Minimum an Witz und Satire in die triste Wohnstube des eher plumpen Deutschen: Dank Loriot und Evelyn Hamann lernte man Familie Hoppenstedt und Erwin Lindemann kennen, dank »Ein Herz und eine Seele« warf man einen tiefen Blick ins Seelenleben der Nachkriegswestdeutschen. In seiner Sketch-Serie »Fast wia im richtigen Leben« analysierte Gerhard Polt[4] den rassistischen Kern und die psychischen Deformationen des deutschen Kleinbürgers. Dank Gerd Dudenhöffers »Familie Heinz Becker« wusste man, wie der durchschnittliche Provinzspießer tickt.

Seine Informationen über das Weltgeschehen bezog man aus der abendlichen »Tagesschau«, und wen es nach Kritik an der Politik der Herrschenden verlangte, war mit den linkssozialdemokratischen Magazinformaten »Panorama« und »Monitor« gut bedient. Nicht ausgeschlossen, dass der grumpy old man des Investigativjournalismus, Klaus Bednarz, der von 1983 bis 2002 als Redaktionsleiter von »Monitor« mit stoischer Miene über die Schweinereien von Konzernen und Politikern berichtete, heute des »Linksextremismus« bezichtigt werden würde.

Wem die bundesdeutsche Realität zu sehr an die Nieren ging, konnte sich dem Kinderprogramm zuwenden: Die »Augsburger Puppenkiste« ging ästhetisch neue Wege. Die Serie »Meister Eder und sein Pumuckl[5]« sorgte dafür, dass man sich den umtriebigen Kobold nie wieder mit einer anderen Stimme als der von Hans Clarin vorstellen konnte, während es der erfreulich undidaktischen, mit angloamerikanischer Humortradition getränkten »Sesamstraße«[6] und der pfiffigen »Sendung mit der Maus« seit Anfang der 70er Jahre gelang, Wissensvermittlung mit Witz und Vergnügen zu verschmurgeln. Und niemand aus der Bevölkerung wäre im Übrigen je auf die Idee gekommen, die Sendeanstalt, von welcher diese Shows, Sketche, Kinderprogramme, Magazine und Sendereihen »ausgestrahlt« wurden (wie man seinerzeit sagte), mit ihrem korrekten Namen zu bezeichnen: »Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland« (Abkürzung: ARD).

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172140.jahre-zdf-zdf-der-greis-der-ein-rebell-war.html?sstr=traumschiff
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1096635.doku-zum-deutschen-fernsehen-teileskapismus.html?sstr=fuchsberger
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1134816.lindenstrasse-leb-wohl-panoptikum-der-piefigkeit.html?sstr=lindenstraße
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163558.gerhard-polt-revolution-gegen-das-doofe.html?sstr=gerhard|polt
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1117378.mit-doesenbier.html?sstr=pumuckl
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170139.sesamstrasse-linke-kinderstube.html?sstr=sesamstraße