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- »Gewalt ausstellen« in Berlin
Remember, remember ...
Die neue Sonderausstellung im DHM erinnert an erste Dokumentationen über NS-Verbrechen
Am Abend des 9. Juni 1942 umstellen Angehörige der SS, der deutschen »Schutzpolizei« sowie der Gestapo Lidice, ein Dorf in Tschechien. Am nächsten Morgen erschießen sie alle 173 männlichen Bewohner. Die Frauen, insgesamt 195, werden von ihren Kindern getrennt und nach Ravensbrück deportiert. Lidice wird in Brand gesteckt, einige Kinder zwecks »Germanisierung« in ein »Lebensborn«-Heim, ein Lieblingsprojekt des SS-Reichsführers Heinrich Himmler, gebracht, andere in das Vernichtungslager Kulmhof deportiert und vergast. »Rache« für das Attentat tschechischer Widerstandskämpfer auf den stellvertretenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich. Nach dem Krieg startet eine einzigartige Suche nach den verschollenen Kindern von Lidice.
Ort- und Zeitwechsel: 10. Juni 1944. Die SS-Panzerdivision »Das Reich« überfällt das französische Dorf Oradour-sur-Glane und ermordet fast alle Einwohner, 643 Männer, Frauen, Kinder, Greise. Zuerst die Männer, dann werden die Frauen und Kinder lebendigen Leibes in der Kirche des Ortes verbrannt. Deklariert als »Vergeltung« für eine Aktion des französischen Widerstands. Das Dorf wird dem Erdboden gleichgemacht. Die Ruinen werden nach der Befreiung vom deutschen Faschismus zum historischen Denkmal erklärt, Oradour wird unweit der Stätte des Verbrechens neu aufgebaut.
Lidice und Oradour, zwei Orte, die zum Symbol entgrenzter Unmenschlichkeit wurden, stellvertretend für unzählige, vielfach erst nach Kriegsende bekannt gewordene Stätten deutscher Verbrechen in ganz Europa. Das Deutsche Historische Museum in Berlin erinnert mit einer neuen Sonderschau exemplarisch an sechs frühe Ausstellungen über die Schrecken der NS-Okkupation. DHM-Direktor Raphael Gross betonte zur Eröffnung: »Die Gewalt der deutschen Besatzungsherrschaft hat in den europäischen Ländern tiefe Spuren hinterlassen. An diese Gewaltverbrechen zu erinnern, ist Teil der historischen Verantwortung Deutschlands und eine Voraussetzung für die Bewältigung der Gegenwart.«
Kuratiert wurde die neue Exposition im avantgardistischen IM Pei-Bau des Museums Unter den Linden von der polnischen Kunsthistorikerin Agata Pietrasik, zurzeit an der Freien Universität Berlin tätig. Im Erdgeschoss des vom chinesisch-amerikanischen Architekten Ieoh Ming Pei entworfenen, gläsernen Gebäudes sind auf rund 400 Quadratmetern rund 360 Exponate aus Frankreich, Großbritannien, Israel, Polen, Tschechien und der Bundesrepublik zu sehen, darunter 80 Originalobjekte.
Eindrucksvoll im Eingangsbereich der bronzene Charakterkopf von Adam-Mickiewicz, Polens bedeutendster Literat, sowie eine Skulptur von drei trauernden Frauen, »Die drei Marien«, geschaffen 1934 von Henryk Kuna. Sie waren Bestandteil der bereits am 3. Mai 1945, fünf Tage vor der Kapitulation der Wehrmachtsgeneräle in Berlin-Karlshorst, eröffneten Ausstellung »Warszawa oskarża« (Warschau klagt an) im Nationalmuseum der polnischen Hauptstadt. Sie legte den Fokus auf die Zerstörung Warschaus nach dem heroischen Aufstand polnischer Patrioten gegen die deutschen Besatzer vom 1. August bis zum 2. Oktober 1944. Die Rache der Sieger war gnadenlos: Bombardement, Sprengungen, Brandstiftungen, Plünderungen. Die Deutschen konzentrierten sich vor allem auf kulturell bedeutsame Einrichtungen, Schlösser, Museen, Bibliotheken und Denkmäler. Kein Wunder, dass sich die erste Dokumentation im von der Roten Armee gemeinsam mit auf sowjetischem Territorium aufgestellten polnischen Streitkräften befreiten Land diesem Barbarismus widmete. Im Katalog der DHM-Ausstellung verweist Piotr Slodkowski, Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Warschau, auf das Anliegen der im ebenfalls verwüsteten Nationalmuseum von renommierten Architekten gestalteten Schau: das »heldenhafte Überleben der Kunst« zugleich als »Beginn einer neuen Ära« und »Hoffnung auf eine bessere Zukunft« zu artikulieren.
Die polnische Nation wurde als eine homogene angerufen, der Mord an drei Millionen polnischen Juden nicht angesprochen. »Im Nachhinein wirkt das sehr befremdlich, denn anders als in Westeuropa war das Wissen über die Vernichtung der Juden in Polen nach dem Krieg allgemein präsent«, schreibt Slodkowski. »In der meinungsbildenden Presse wurde darüber berichtet, und die dezimierte jüdische Gemeinschaft setzte sich von Anfang an nachdrücklich dafür ein, die Tragödie des Warschauer Ghettos-Aufstands bekannt zu machen und ihrer zu gedenken.« Das anfängliche Versäumnis holte eine zweite Ausstellung drei Jahre später nach, vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau verantwortet und betitelt mit »Martirologye un kamf/ Martyrologia i walka« (Martyrium und Kampf).
Den Anfang in der musealen Entlarvung deutsch-faschistischen Okkupationsterrors machten allerdings die Briten, die dank missglückter Operation »Seelöwe« von dieser zwar verschont geblieben sind, nicht aber von verheerenden V1- und V2-Raketenangriffen. »The Horror Camps« (Die Lager des Schreckens) zeigten schon ab dem 1. Mai 1945 im Lesesaal des »Daily Express« in der Londoner Regent Street drastische Aufnahmen aus kurz zuvor von den Westalliierten befreiten Konzentrationslagern, die später auch in europäischen Gerichtssälen, unter anderem beim Nürnberger Tribunal der Siegermächte der noch vereinten Antihitlerkoalition gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher 1945/46 als Beweise zum Einsatz kamen. »Seeing is Believing« (Sehen heißt glauben) war an einer Wand zu lesen. Gezeigt wurden die Leichenberge in den Konzentrationslagern und die zu Skeletten abgemergelten überlebenden Häftlinge. Der Londoner »Evening Standard« berichtete unter der Überschrift »Remember Belsen and Buchenwald« über die Besucherschlangen vor dem Ausstellungsgebäude. In einem Interview betonte der britische Philosoph Bertrand Russel, es sei »notwendig, sowohl zu verstehen als auch zu verdammen«, nur dann könne »die unvermeidbare Empfindung des Abscheus dabei helfen, künftige Grausamkeiten zu verhindern«. Auch in London wurde damals die jüdische Identität vieler Opfer noch nicht vordergründig problematisiert.
In der heute vor 80 Jahren, am 10. Juni 1945, im Pariser Grand Palais eröffneten Ausstellung »Crimes hitlériens« (Hitlersche Verbrechen) waren Urnen mit der Asche in Vernichtungslagern ermordeter Menschen zu sehen. Und natürlich Zeugnisse des deutschen Massakers ein Jahr zuvor in Oradour: ein von Kugeln durchlöcherter Kinderwagen sowie persönliche Gegenstände der Ermordeten, Taschenuhren, Rasiermesser, Spielzeug. 1953 fand in Bordeaux ein Prozess gegen die Mörder statt. Die Bundesrepublik Deutschland hat keinen der Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und Auslieferungsanträgen Frankreichs nicht stattgegeben. Die Stasi spürte Mitte der 70er Jahre in der DDR SS-Obersturmbannführer Heinz Barth auf, der im Bordeaux-Prozess in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Er wurde von der DDR-Justiz zu lebenslanger Haft verurteilt, im wiedervereinten Deutschland jedoch aus dem Gefängnis entlassen und erhielt sogar eine Kriegsopferrente, bis diese ihm aufgrund öffentlicher Proteste entzogen werden musste. Barth soll auch an dem Massaker im tschechischen Ležáky beteiligt gewesen sein, das wenige Tage nach der Auslöschung von Lidice, am 24. Juni 1942, stattfand, ebenfalls als »Vergeltungsakt« deklariert.
Warum werden die frühen Ausstellungen über den NS-Terror in der Sowjetunion nicht erwähnt? Kotau vor den Sanktionen gegen Russland?
Interessant aber die Ausführungen von Jean-Marc Dreyfus vom Centre d’histoire des Sciences in Paris und Geschichtsprofessor an der University of Manchester, im Katalog. Er macht auf das Hotel Lutetia in der französischen Hauptstadt aufmerksam, das 1945 als Aufnahmestation für Deportierte, Überlebende der NS-Konzentrations- und Vernichtungslager diente, Juden wie Résistancekämpfer. Und das, wie hier ergänzt sei, zehn Jahre zuvor Gründungsort des Lutetita-Kreises war, des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront mit Heinrich Mann und Willi Münzenberg an der Spitze. Dreyfus erinnert an einen im Mai 1947 von der Fraktion der KP Frankreichs in die Nationalversammlung eingebrachten Gesetzesvorschlag, den Deportieren, egal welcher Herkunft oder politischen Gesinnung, einen besonderen Status zu verleihen. Der Vorschlag wurde heftig kontrovers diskutiert. Im August 1947 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das den Résistance-Kämpfern höhere Pensionen zusicherte als den jüdischen Opfern. Erst in den 70er Jahren kam es zu einer Angleichung beider Gruppen.
In der ersten, am 8. September 1946 eröffneten, tschechischen Nachkriegsausstellung in Liberec, in der »Henlein-Villa«, dem einstigen Wohnsitz des sudetendeutschen NS-Führers Konrad Henlein, waren vor allem Objekte aus Lidice zu sehen, aber auch aus den Gestapo-Gefängnissen in der Kleinen Festung Theresienstadt sowie dem Prager Stadtteil Pankrác: ausgeschlagene Zähne gefolterter Widerstandskämpfer sowie Galgen und Guillotine. Laut Peter Hallama, Professor an der Université Sorbonne in Paris, reduzierte diese Ausstellung allerdings den Zweiten Weltkrieg auf eine deutsch-tschechische Auseinandersetzung und diente der Rechtfertigung der Vertreibung der deutschen Minderheit nach der Befreiung vom Faschismus aus der Tschechoslowakei. In der DHM-Ausstellung ist das damals dort gezeigte tschechoslowakische Wappen zu sehen, das die Einheit der Tschechen und Slowaken unter dem Motto »Pravda vitezi« (Wahrheit siegt) bekräftigen sollte. 1964 wurde das Museum in der »Henlein-Villa« geschlossen, zum zentralen Erinnerungsort war Theresienstadt, Terezín, avanciert, wobei auch hier zunächst »ein nationalistisches und heroisches Geschichtsbild« vermittelt und die vermeintlich »passiven« jüdischen Opfer ausgeschlossen worden seien.
Die sechste der im DHM dokumentierten frühen Nachkriegsausstellungen widmet sich der am 20. Juli 1947 in der einstigen Wehrmachtskaserne des KZ Bergen-Belsen von jüdischen Überlebenden konzipierten. Sie stand unter dem Zeichen neuen jüdischen Selbstbewusstseins, bot eine Rückschau auf vielfältige jüdische Geschichte, wie Katja Seybold, Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen informiert, zum anderen aber auch auf die frühe Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Zugleich warb sie für die Einwanderung nach Palästina und die Anerkennung der Juden als eigene Nation, explizit in einer Resolution des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Besatzungszone unter Vorsitz von Josef Rosensaft: »Wir fordern von den United Nations die Öffnung der Tore in die Welt … Wir fordern von England als Mandatsmacht: Öffnet die Tore Palästinas und schafft endlich die Möglichkeit, diesen blutgedüngten Boden Deutschlands zu verlassen, um unsere Kraft, unsere Energie und unseren Willen für den Aufbau unseres eigenen nationalen Heims in EREZ ISRAEL einsetzen zu können.« Zu den hier gezeigten Objekten, gehört ein zwölfteiliger Holzschnittzyklus von Walter Preisser, Holocaust-Überlebender.
Fazit der Kuratorin der DHM-Sonderausstellung Agata Pietrasik: All diese frühen Nachkriegsausstellungen offenbarten »das spürbare Verlangen, den von den Tätern beschmutzten Raum zurückzuerobern, indem man ihre Taten durch den symbolischen Akt, die Verbrechen zu benennen und die Deutungshoheit wiederzuerlangen, verdammte«. Sie würden zugleich demonstrieren, »dass nicht nur in den Gerichtssälen für Gerechtigkeit gesorgt werden konnte«. Die damals aufgekommenen Symbole und Metaphern würden zudem bis heute als »Erinnerungsorte« unserer Erzählungen dominieren.
Bleibt die Frage, warum keine Nachkriegsausstellung in der Sowjetunion vom DHM reflektiert wird. Der deutschen Massaker gab es dort noch wesentlich mehr als in West- und Mitteleuropa, von der Erschießung der über 33 000 jüdischen Männern, Frauen, Kinder, Säuglinge in der Schlucht von Babyn Jar, Kiew, am 29./30. September 1941 bis hin zum millionenfachen Hungermord an den Bürgern und Bürgerinnen von Leningrad während der 900-tägigen Blockade der Stadt an der Newa durch die deutsch-faschistische Wehrmacht. Warum deren Ausblendung heute und hier im Herzen der deutschen Hauptstadt, der einstigen Höhle des Bösen? Freiwillige oder unfreiwillige Unterordnung unter auch auf geistig-kulturellem Gebiet verordnete Sanktionen gegen Russland? Solch Kotau ließe zweifeln an der Solidität und Wahrhaftigkeit des in Berlin auf Beschluss des Bundestages unter DHM-Ägide entstehenden Dokumentationszentrums »Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung in Europa«. Apropos: Zu deren Erarbeitung könnte die in den 80er Jahren von DDR-Wissenschaftlern begonnene und bis in die 90er fortgeführte mehrbändige Dokumentationsreihe »Europa unterm Hakenkreuz« hilfreich sein.
»Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa 1945-1948«, Deutsches Historisches Museum, bis 23. November, Führung mit Agata Pietrasik am 11. Juni, 18.30 Uhr; eintrittsfreie und auch digital erlebbare Veranstaltungsreihe siehe »Facing Nazi Crimes: European Perspectives after 1945«, ausstellungsbegleitende Retrospektive im Zeughauskino »Bezeugen und erzählen. Frühe Bilder befreiter Lager«; Katalog (Ch. Links Verlag, 164 S., br., 28 €).
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