Die derzeit 22 Schiffe und Segelboote europäischer Organisationen retten nicht nur Menschenleben, sondern dokumentieren ihre Beobachtungen im Mittelmeer systematisch in einem sogenannten »SARchive«. Auch viele Seenotrettungen staatlicher Akteure sind öffentlich bekannt, weitere Boote werden von NGOs aus der Luft gesichtet. All diese Daten wurden nun durch das Malta Migration Archive[1] ausgewertet. Die Erkenntnisse offenbaren einen dramatischen Wandel in der Seenotrettung: Seit 2020 wurden über 5100 Menschen in 79 Booten von Milizen nach Libyen zurückgeholt – obwohl Malta eigentlich für deren Rettung zuständig gewesen wäre.
Malta ist wie alle Meeresanrainer völkerrechtlich verpflichtet, in seiner Such- und Rettungszone ohne Verzögerung und ohne Diskriminierung für die Bergung von Menschen in Seenot zu sorgen. Diese SAR-Zonen befinden sich außerhalb der Hoheitsgewässer auf Hoher See. Sie müssen bei der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation (IMO) notifiziert werden. Damit garantieren die Regierungen auch die Einrichtung einer Seenotleitstelle (MRCC) und die Bereitstellung eigener Rettungskapazitäten.
Doch seit der Unterzeichnung eines geheimen Migrationsabkommens mit Libyen vor fünf Jahren untergräbt der Inselstaat systematisch diese Pflicht: Die Zahl der Rettungen durch Maltas Streitkräfte, die auch für die Küstenwache verantwortlich sind, sank um 90 Prozent. Das daraus entstandene Vakuum füllten – offenbar in Absprache mit der Regierung in Valletta – Milizen aus Libyen. Diese bewaffneten Einheiten stehen seit Langem wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik.
Unter anderem entschied ein italienisches Gericht 2024, dass libysche Abfangaktionen rechtlich nicht als Rettungsoperationen qualifiziert werden können, da die Milizen Gewalt zur Einschüchterung von Migrant*innen einsetzen. Dies verstößt gegen das Völkerrecht, da echte Seenotrettung den Transport der geretteten Menschen in einen sicheren Hafen erfordert – nicht die gewaltsame Rückführung in libysche Haftzentren, die für Misshandlung und Folter berüchtigt sind.
Für die Umsetzung des 2020 mit Libyen geschlossenen Abkommens ist der Malteser Alexander Dalli verantwortlich[2]. Valletta ernannte ihn 2021 zum Sondergesandten für die Unterstützung Libyens im Kampf gegen »illegale Migration«. Dalli war zuvor Direktor des Corradino-Gefängnisses, musste aber nach einem Bericht des maltesischen Ombudsmanns über Menschenrechtsverletzungen und unmenschliche Behandlung in der Haftanstalt zurücktreten. Trotz dieser Vorgeschichte lobte Premierminister Robert Abela die Arbeit von Dalli und erklärte, dieser vollbringe »Wunder bei der Kontrolle irregulärer Immigration«.
Aus Sicht der Migrant*innen sind diese »Wunder« eher Katastrophen: 2020 retteten Maltas Streitkräfte den Daten zufolge noch 21 Flüchtlingsboote, während die sogenannte libysche Küstenwache sieben von ihnen abfing und die Menschen in die Folterlager zurückbrachte. Bis zum vergangenen Jahr war das Verhältnis auf den Kopf gestellt – nur noch zwei maltesische Rettungen standen 23 libyschen Abfangaktionen gegenüber. Parallel dazu ging auch die Zahl der Ankünfte von Migrant*innen in Malta drastisch zurück: von fast 2300 im Jahr 2020 auf nur noch 238 im vergangenen Jahr. Das belegen UN-Zahlen, die das Malta Migration Archive ebenfalls analysiert hat.
Das Problem der Handhabung von Maltas weitläufiger SAR-Zone ist nicht neu. Sie liegt wie ein Balken im zentralen Mittelmeer. Nördlich liegt die italienische Zone, im Süden die libysche und die tunesische. De facto müssen also alle Boote, in denen sich Menschen von Nordafrika nach Europa aufmachen, diese maltesische SAR-Zone durchfahren.
Schon zuzeiten der großen Unglücke von Migrantenbooten[3] in den Zehnerjahren ignorierte die maltesische Küstenwache die meisten Boote in ihrer SAR-Zone. Solange der Motor noch intakt war, lautete offenbar die Devise, dass die Migrant*innen in Richtung Italien weiterfahren sollten. Diese Praxis ist ein klarer Verstoß gegen internationale Konventionen, denen zufolge schon ein überfülltes Boot oder die Anwesenheit schutzbedürftiger Personen eine sofortige Rettung vorschreiben. Es gab sogar Berichte, dass Malta Menschen mit Benzin und Trinkwasser versorgte, damit ihre Boote nicht gerettet werden mussten.
Auch heutzutage ist das maltesische MRCC für seine Untätigkeit bekannt, berichtet das Notruftelefon Alarm Phone[4]. »Wenn wir Malta anrufen, bekommen wir entweder eine Bandansage oder ein knappes ›Wir sind beschäftigt‹«, berichtet die Organisation, die von Aktivist*innen aus Europa und Afrika getragen wird.
Das Malta Migration Archive dokumentiert die Ergebnisse Tausender gefährlicher Mittelmeerreisen auf einer interaktiven Karte. Daraus geht hervor, dass das Schicksal von fast 1900 Booten, die Maltas SAR-Zone in den letzten vier Jahren nachweislich durchfahren haben, ungeklärt ist. Die Menschen könnten Italiens SAR-Zone oder sogar die Küste erreicht haben – einige der Boote könnten aber auch gesunken sein.
Mit seiner interaktiven Website will das »Gegen-Archiv« staatliche Vertuschungsversuche und das systematische Verschweigen kritischer Informationen über Migration zur See und an Land sichtbar machen. Es entstand als Gemeinschaftsprojekt verschiedener Organisationen, zu den bekanntesten Partnern gehören Alarm Phone und die sogenannte zivile Seenotleitstelle, die Organisationen aus Deutschland und anderen Ländern unter dem Kürzel CMRCC gegründet haben.
Zu den stark heruntergefahrenen Rettungsmaßnahmen durch die maltesische Küstenwache haben die Aktivist*innen des Malta Migration Archive eine klare Meinung. »Die Seenotrettung ist eine etablierte ethische und rechtliche Pflicht. Die Regierung Maltas muss ihre Politik deshalb unverzüglich ändern«, erklärte ein Sprecher »nd«. Auch müsse Valletta das Malta-Libyen-Memorandum über Migration widerrufen und jede Zusammenarbeit bei Zwangsrückführungen nach Libyen beenden.