nd-aktuell.de / 20.06.2025 / Berlin

Palästina-Parole: Angeklagter freigesprochen

Ist »From the river to the sea« eine Parole der Hamas? Ein Berliner Gericht verneint das

David Rojas Kienzle
Am 7. Mai 2024 besetzten Studierende den Theaterhof der Freien Universität.
Am 7. Mai 2024 besetzten Studierende den Theaterhof der Freien Universität.

Das Urteil sei ein Erfolg, sagt Emil T. nach der Verhandlung am Freitag zu »nd«. Der Student ist gerade freigesprochen worden. Ihm war von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen worden, auf einer pro-palästinensischen Demonstration im Mai 2024 die Parole »From the river to the sea, palestine will be free« gerufen zu haben. Außerdem soll er im Rahmen der Besetzung des Theaterhofs der Freien Universität im selben Monat Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet haben.

Nachdem in der Verhandlung im Amtsgericht Tiergarten Videos von der angeblichen Widerstandshandlung gezeigt wurden, war selbst die Staatsanwaltschaft von ihrem Vorwurf abgerückt und plädierte für einen Freispruch des Angeklagten. Die Richterin sah es ähnlich: »Wie das ein Widerstand sein soll, ist mir ein Rätsel«, sagte sie.

Strittiger war die Frage, ob Emil T. wegen des Rufens der Parole verurteilt werden kann. Dass er sie gerufen hat, war hingegen klar: In einer Einlassung zu Beginn der Verhandlung hatte er das eingeräumt. Und auch gesagt, was er damit sagen wollte: »Für mich drückt das die Meinung aus, dass auf dem historischen Mandatsgebiet Palästinas ein Staat, in dem alle in Freiheit, ohne Unterdrückung und Besatzung leben können, sein soll.«

Die Staatsanwaltschaft beantragte, dass der Student wegen des Verwendens eines Kennzeichens einer verbotenen Vereinigung verurteilt werden soll. Das Bundesinnenministerium hatte im November 2023 gleichzeitig die islamistische Hamas und das Gefangenennetzwerk Samidoun verboten. Im Zuge dessen erklärte das Ministerium die Parole »From the River to the Sea« – ohne zweiten Teilsatz – zum Symbol beider Vereinigungen[1].

Seither führt die Verwendung der Parole auf pro-palästinensischen Demonstrationen nicht nur zum Einschreiten der Polizei,[2] mit entsprechender Gewalt und Festnahmen. Auch Gerichte müssen sich immer wieder mit der Frage der Strafbarkeit der Parole[3] auseinandersetzen – und kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.[4]

Zentral ist dabei die Frage: Ist die Parole eine Parole der Hamas? Am Freitag wird dazu eine Sachverständige der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts Berlin gehört. Die politische Referentin verweist auf die Geschichte der Parole, die von palästinensischen Akteur*innen das erste Mal in den 60ern verwendet worden sei. Damals sei so die Forderung nach einem säkularen Staat zum Ausdruck gebracht worden, so die Sachverständige.

Aber auch die Hamas verwende die Formulierung. Die Beispiele, die die Sachverständige nennt, sind etwa die Hamas-Charta von 2017 und das Bild eines Wahlplakats aus dem Jahr 2006 in Ramallah im Westjordanland – zu finden auf Wikipedia – auf dem »PALSETINE From Sea to Rever« (sic!) steht. Letzteres sei der Fall, der einer Verwendung als Slogan am nächsten komme. Denn: »Ich habe kein Beispiel finden können, wo die Parole von der Hamas als Wahlspruch verwendet wurde, ohne Kontext«, so die LKA-Mitarbeiterin. Wer das Foto des Plakats gemacht hat, wer es wann aufgehängt hat, kann sie allerdings nicht sagen.

Aber nicht nur palästinensische Akteure nutzen den Ausspruch. Auch Politiker der nationalkonservativen Partei Likud, der auch der aktuelle israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu[5] angehört, haben die Formulierung »from the river to the sea« oder ähnliche schon verwendet. Und auch auf pro-israelischen Demonstrationen wird teilweise auf die Formulierung zurückgegriffen. So hat laut der LKA-Mitarbeiterin im April 2024 ein Demonstrant »From the river to the sea, palestine will never be« gerufen und eine israelische Fahne geschwenkt.

T.s Verteidiger Yaşar Ohle fordert, dass sein Mandant freigesprochen wird. »Ich bin der Auffassung, dass diese Parole nicht strafbar ist.« Sie werde von diversen Organisationen verwendet, weswegen man sich die Frage stellen müsse, ob sie überhaupt ein Kennzeichen einer Organisation darstellen könne.

Emil T. verliest zum Schluss des Prozesses eine politische Erklärung, in der er schwere Vorwürfe erhebt: Der Grund der Anklage sei nicht juristisch, sondern politisch. »Sie ist ein Akt der Staatsräson, nicht der Justiz.« Er geht ausführlich auf die Gründe für den Protest ein: In Palästina finde ein »Genozid«[6] statt. »Eine ganze Bevölkerung wird ausgehungert, zerbombt, vertrieben«, so der Student. Das alles geschehe mit diplomatischer Rückendeckung und militärischer Unterstützung westlicher Länder vor allem Deutschlands. »Wir stehen in der Tradition von antimilitaristischen Studentenbewegungen wie den 68ern«, sagt er. Diese hätten sich mit dem Befreiungskampf in Vietnam solidarisiert und sich gegen den Krieg gestellt. Die Parole, wegen der er angeklagt ist, sei wichtig, weil sie »auf ein Leben jenseits der nationalen Grenzen, Krieg und Unterdrückung« hinweise.

»Heute gab es zwar einen Freispruch, aber gleichzeitig wurde das Ordnungsrecht an Universitäten eingeführt, das Demonstrationsrecht eingeschränkt.«

Noa Perreira
Hands off Student rights

Das Gericht folgt der Argumentation der Verteidigung und spricht T. frei. Die Richterin habe, wie sie sagt, schon Bedenken gehabt, überhaupt einen Strafbefehl zu erlassen. Es werde mit Kanonen auf Spatzen geschossen und politischer Protest kriminalisiert. Auf den Vorwurf von T. hin, die Justiz agiere politisch, verweist sie darauf, dass es schon andere Freisprüche gegeben habe. »Viele Richter sehen das auch so.«

»Egal wie es ausgegangen wäre, ich mache weiter mit dem Kampf für ein freies Palästina und gegen Militarismus und westlichen Imperialismus«, sagt Emil T. nach dem Prozess zu »nd«. Dafür brauche er nicht die Bestätigung des Gerichts. Auch wenn er der Ansicht sei, dass Gerechtigkeit nicht vom Staat geschenkt, sondern auf der Straße und vor Gericht erkämpft werde, hoffe er, dass langfristig die Parole entkriminalisiert werde.

»Das Urteil ist richtig«, sagt Rechtsanwalt Ohle. Es habe sich gezeigt, dass die vom Bundesinnenministerium konstruierte Verbindung von der Parole zur Hamas nicht haltbar sei. »Das von einem Gericht bestätigt zu bekommen, ist aus Verteidigungsperspektive natürlich gut.« Er schränkt aber auch ein: Die Staatsanwaltschaft werde sicher Rechtsmittel einlegen und die nächste Instanz müsse sich dann damit beschäftigen. »Da weder Bundesregierung noch Landesregierung noch die Staatsanwaltschaft davon abrücken wird, diese Parole zu kriminalisieren, wird es nötig sein, eine höchstrichterliche Klärung dieser Frage zu erhalten«, sagt Ohle. Bis dahin würden unliebsame Demonstrationen weiter über diese Parole kriminalisiert[7].

Die Initiative »Hands off student rights« (Hände weg von Studierendenrechten) begleitet zahlreiche Prozesse, die gegen Studierende geführt werden. »Heute gab es zwar einen Freispruch, aber gleichzeitig wurde das Ordnungsrecht an Universitäten eingeführt, das Demonstrationsrecht eingeschränkt«, sagt deren Sprecher, Noa Perreira im Gespräch mit »nd«. Aktuell werde gegen mehr als 400 Studierende strafrechtlich ermittelt. Anhand dieser »beispiellosen Kriminalisierung der Palästina-Solidarität« könne man sehen, dass ein autoritärer Umbau stattfinde. »Deshalb sagen wir, dass man sich weiterhin für eine Entkriminalisierung der Palästina-Solidarität einsetzen muss und auch für ein Ende der deutschen Komplizenschaft mit dem Genozid in Gaza.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177900.freiheitsforderung-fuer-palaestina-es-ist-boeswillig-die-parole-bewusst-falsch-zu-verstehen.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191375.berlin-nakba-demo-videos-stellen-offizielle-darstellung-infrage.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184697.from-the-river-to-the-sea-amtsgericht-tiergarten-parolenstreit-endet-mit-festnahmen.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1184315.from-the-river-to-the-sea-berliner-gericht-verhaengt-geldstrafe-fuer-umstrittenen-losung.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190860.krieg-in-gaza-hamas-und-netanjahu-zwei-vom-gleichen-schlag.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191510.literatur-genozid-entscheidend-ist-die-intention.html
  7. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191189.index-der-repression-systematische-unterdrueckung-von-palaestina-solidaritaet.html