1919 in Hamburg geboren, flieht der Jude Fritz Traugott 1938 vor den Faschisten. Im Juli 1945 kommt er als einer der ersten US-Soldaten nach Berlin. Noch haben sich die sowjetischen Truppen nicht in ihren Sektor im Osten der Stadt zurückgezogen. Aber sie räumen für Traugotts kleine Vorausabteilung von zehn Mann eine Villa am Wannsee.
Es ist ausgerechnet das Haus, in dem am 20. Januar 1942 eine von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich[1] geleitete Konferenz organisatorische Details der bereits angelaufenen Ermordung der europäischen Juden[2] besprach. Das überlieferte Protokoll spricht, die grausamen Tatsachen verhüllend, von der »Endlösung der Judenfrage« und von einer »Sonderbehandlung« der verschleppten Menschen.
Das kann Fritz Traugott im Sommer 1945 nicht wissen. Das Protokoll der berüchtigten Wannsee-Konferenz wurde erst 1947 entdeckt. Dass sie aber in einem Gästehaus der SS Quartier nehmen, wissen die US-Soldaten. Denn sie finden Briefpapier mit dem Aufdruck »Reichsführer SS«. Fritz Traugott schreibt darauf am 4. Juli seiner Frau Lucia: »Liebling, wie gefällt dir dieses Briefpapier? Wir haben es in dem Haus gefunden, in das wir einziehen werden.«
Die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz[3] (GHWK) hat Traugotts Briefe ausgewertet und eine Ausstellung im Garten der Villa daraus gemacht, die am Donnerstagabend eröffnet wurde. Es handelt sich um nicht viel mehr als ein paar kleine Stationen mit Fotos und Texten. Aber sie sind kombiniert mit einem Hörspaziergang. Mit einem in der Gedenkstätte ausgeliehenen Gerät oder auf dem eigenen Mobiltelefon heruntergeladen können sich Besucher aus den Briefen vorlesen lassen und sich Erläuterungen dazu anhören – insgesamt eine Stunde lang.
Traugott gehörte zu den Ritchie Boys. Das sind US-Soldaten, die Kriegsgefangene und Kriegsverbrecher verhören, was ihnen mit ihren ausgezeichneten Sprachkenntnissen möglich ist. Das macht Traugott nun auch in Berlin und schreibt seiner Familie: »Ich spreche jeden Tag mit diesen Verbrechern, mit Gestapo-Männern, KZ-Aufsehern – die weiblichen sind die schlimmsten –, Nazibonzen und all den anderen dreckigen Bastarden.« Er meint: »Die Nazis haben so viel angerichtet, direkt und indirekt, das kann nie wieder in Ordnung gebracht werden.« Traugott trifft auch ungarische und tschechische Jüdinnen, die als KZ-Häftlinge in Auschwitz waren – bedauert, ihr Leid nicht lindern zu können.
Traugotts eigene Familie hatte Glück im Unglück. Die Faschisten ermordeten sechs Millionen Juden. Doch er und seine Eltern gehörten zu den 140 000, die Zuflucht in den USA fanden. Was aus seiner in Hamburg gebliebenen Schwester geworden ist, erfährt Fritz erst 1945. Sie hat mit ihren beiden Töchtern an der Seite ihres deutschen Ehemanns überlebt. Hätte der Mann sich scheiden lassen, wäre die Frau höchstwahrscheinlich umgebracht worden.
»Die Hauptsache ist, dass alle am Leben sind«, berichtet Fritz Traugott erleichtert nach Hause. Er glaubt: »Nur Zeit und reichlich Essen können ihnen über alles andere hinweghelfen.« Für Fritz ist klar, wie schwer alles zu begreifen und zu verstehen ist. Er denkt: »Man muss all diese Schrecken hautnah miterlebt haben, die schrecklichen Bombenangriffe, die ständige Angst vor der Gestapo und all das andere unbeschreibliche Elend.«
Schließlich kauft sich Fritz Traugott in Deutschland einen Fotoapparat und schickt seinen Angehörigen auch seine Aufnahmen der Villa am Wannsee. 1995 stirbt Fritz Traugott in New York. 2022, kurz nach dem 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, erreicht die Gedenkstätte eine E-Mail seiner Kinder mit einem alten Foto von der US-Flagge auf dem Dach der Villa. Dazu die Frage, ob die Gedenkstätte an den aufbewahrten Briefen von Fritz Traugott interessiert sei.
Gedenkstättenleiterin Deborah Hartmann und ihre Mitarbeiterin Judith Alberth sind interessiert. Schließlich ist bis dahin wenig bekannt, wie das Haus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg genutzt wurde. In vier Videokonferenzen und einem persönlichen Besuch der Traugott-Kinder im Dezember 2024 wird die Ausstellung vorbereitet. Nun sind Michael, Mark und Kathryn zur Eröffnung erneut angereist. Auch auf das Dach der Gedenkstätte, auf der einst die US-Flagge wehte, sind die Geschwister jetzt gestiegen. Michael war ein Jahr alt, als sein Vater in Berlin diente und in seinen Briefen an seine Frau Lucia schrieb, wie sehr er den gemeinsamen Sohn vermisse.
Michael und Mark überlassen es am Donnerstagabend ihrer jüngeren Schwester Kathryn, ein paar Worte zu sagen. Sichtlich bewegt berichtet sie, ihr Vater habe mit seinen Kindern nicht über den Krieg und über seine Zeit in Berlin gesprochen. Es sei schwer sich vorzustellen, was die Rückkehr nach Deutschland in ihm auslöste, sagt Kathryn. Generell sei der Vater für Freiheit und soziale Gerechtigkeit eingetreten und habe gewollt, »dass so etwas nie wieder geschieht«.
Aber im Januar 2024 wurde durch eine Correctiv-Recherche bekannt, dass der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner[4] Ende 2023 bei einem Treffen von Rechten in Potsdam über Remigration gesprochen hat, womit nichts anderes gemeint ist als die massenhafte Vertreibung von Ausländern. Dagegen richteten sich Anfang 2024 zahlreiche Demonstrationen überall in Deutschland. Das Treffen wurde vielfach als eine Art Neuauflage der Wannsee-Konferenz bezeichnet.
Zuletzt rief eine Ausstellung in der Gedenkstätte die Bundestagsabgeordneten Ronald Gläser, Götz Frömming und Martin Erwin Renner (alle AfD) auf den Plan. Sie fragten mit Datum 15. Mai 2025 schriftlich: »Ist der Bundesregierung bekannt, dass auf dem Gelände der Gedenkstätte mehrere Infotafeln auf angebliche Parallelen zwischen dem vom Medium Correctiv 2024 beschriebenen Vortrag in Potsdam und der Wannsee-Konferenz von 1942 hinweisen?« Die drei Abgeordneten sahen darin eine »eindeutige Instrumentalisierung des Holocaust durch eine mit Steuergeldern finanzierte Bildungseinrichtung« mit dem Zweck, der Opposition zu schaden. Denn Sellner soll ja in Potsdam zu AfD-Leuten gesprochen haben. Die AfD-Abgeordneten fragten: »Warum toleriert die Bundesregierung die Existenz dieser Tafeln?«
Die betreffende Ausstellung sei allerdings nicht abgebaut worden, weil die Gedenkstätte nicht mehr dazu stehe, versichert Leiterin Hartmann am Donnerstag. Es sei eine Wechselausstellung gewesen, die planmäßig Platz machte für die ebenfalls wichtige Traugott-Ausstellung. Der Protest der AfD zeigte aber eine andere Wirkung. Die Gedenkstätte ist Hartmann zufolge beschimpft und bedroht worden, etwa mit der Nachricht: »Ihr dreckigen Lügner, ihr gehört abgebrannt!«
Christian Heldt vom Auswärtigen Amt hört am Donnerstag zum ersten Mal davon. Er weicht spontan vom vorbereiteten Text seines Grußworts ab und ermuntert die Mitarbeiter der Gedenkstätte: »Macht weiter, seid laut, seid deutlich!«
Ausstellung »Auf dem Dach von Himmlers Gästehaus. Die US-Armee 1945 am Wannsee«, bis 30. Mai, Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Am Großen Wannsee 56–58 in 14109 Berlin, geöffnet Mo. bis So. von 10–18 Uhr, Eintritt frei
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192055.shoa-ein-juedischer-us-soldat-im-gaestehaus-der-ss.html