Endlich! Nach fast zwei Jahren Krieg in Gaza waren in Berlin am Samstag Zehntausende auf der Straße. Die Angaben variieren: Die Polizei spricht von 12 000, die Organisator*innen von bis zu 50 000 Menschen, die gegen die Hungerblockade und die deutsche Mitverantwortung an Israels Krieg auf die Straße gingen. Zwar wird sich die Merz-Regierung davon unbeeindruckt zeigen. Doch immerhin formiert sich sichtbarer Protest. Das ist auch deshalb entscheidend, weil Deutschland der zweitwichtigste Unterstützer Israels ist und tatsächlich etwas bewirken könnten.
In der Springer-Presse wird den Demonstrierenden wieder einmal Antisemitismus nachgesagt. Doch das darf nicht überraschen. Für Deutschlands führenden Medienkonzern geht es darum, Trump und Netanjahu bei ihren Neuordnungsplänen in Nahost den Rücken freizuhalten. Wer über die Gesinnung einzelner Demonstrant*innen spricht, kann über das Sterben-Lassen von zwei Millionen Menschen in Gaza besser schweigen.
Lesen Sie den Bericht zum Thema: 40 000 bei Palästina-Demo in Berlin[1] – Zehntausende protestieren gegen den Krieg in Gaza und für die Einhaltung des Völkerrechts
Trotzdem muss eine linke Solidaritätsbewegung, wenn sie denn jetzt endlich entsteht, universalistische Positionen stärker machen. Dass palästinensische Redner*innen jüdische Besatzungsgegner*innen als Brüder und Schwestern bezeichneten, war am Samstag häufiger zu hören. Gut so, denn es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen Jüd*innen und dem kriegführenden Staat Israel immer wieder zu betonen.
Aber völlig unreflektiert auf der Demonstration blieb der Umstand, dass viele iranische und vereinzelt auch türkische Fahnen gezeigt wurden. Als hätten das Mullah-Regime oder Erdoğans Türkei nicht ähnlich völkerrechtswidrige Kriege in Syrien, Libanon, Kurdistan und anderswo geführt. Wer sich mit Palästina solidarisiert, darf die Frauen im Iran, die Kurd*innen in der Türkei nicht vor den Bus stoßen.
Doch um solche Fragen stellen zu können, muss man sich erst einmal an Bewegungen beteiligen. Die Partei Die Linke, die für Ende Juli eine erste Demonstration plant, gehörte – von einzelnen Sektionen abgesehen – gestern wieder nicht zu den Aufrufenden. Politische Glaubwürdigkeit aber hat auch mit Geschwindigkeit zu tun: Wer sich zu lange heraushält, wird kein Gehör mehr finden.
Lernen könnte die deutsche Linke in diesem Sinne von der queeren Berliner Szene, die seit 2023 viel internationalistische Solidarität bewiesen hat. Den meisten trans Menschen und queeren Feministinnen ist zweifelsohne klar, dass sie unter der Hamas wenig zu lachen hätten. Trotzdem solidarisieren sie sich mit muslimischen Familien, die aus Angst um ihre Angehörigen in Palästina seit Jahren, nicht erst seit Oktober 2023, fast wahnsinnig werden. Für sie bedeutet der Satz »Nie wieder ist jetzt«, dass jede Masseninhaftierung, jeder Genozid verhindert werden muss.
Dass antizionistische Jüd*innen, religiöse Menschen, trans Frauen und Queers aller Hautfarben am Wochenende gemeinsam auf der Straße waren, ist ein wichtiger Schritt. Jetzt müsste es darum gehen, die Anti-Kriegs-Proteste mit universalistischen Inhalten zu füllen. Wie groß die allgemeine Verwirrung ist, zeigten nicht nur die Erdoğan- oder Khamenei-Fans, die die Kriegsverbrechen der einen empören, der anderen begeistern, sondern auch einige Dutzend proisraelische Gegendemonstrant*innen. Komplett schwarz vermummt schwenkte einer der Teilnehmenden seine rote Antifa-Fahne – von einer Hundertschaft schwerbewaffneter Polizist*innen geschützt.
Dass die Berliner Polizei in diesem Fall nichts gegen Vermummung und rote Antifa-Fahne einzuwenden hatte, sagt eigentlich alles. Beim Nahostkonflikt geht es eben immer auch um Machtasymmetrien. Auch das müsste bei der Debatte berücksichtigt werden.