Der Mensch der Gegenwart ist immerzu beschäftigt. Selbst wenn der entgrenzte Arbeitsalltag irgendwann abends endet, heißt das noch lange nicht, dass die Mühen des Tages aufhören: Partner, Kinder, Haustiere und Hobbykeller fordern Aufmerksamkeit, der Haushalt und die Care-Arbeit wollen erledigt werden. Networking, Nahrungsaufnahme, Körperpflege, Supermarkteinkauf, Fitnessstudio, Facebook, Steuererklärung. Die neuesten Tiktok-Videos wollen angeschaut werden, das Smartphone will alle anderthalb Minuten auf die neuesten News (»Kreisch-Alarm im Dschungelcamp«) gecheckt werden, überflüssige Waren wollen im Internet bestellt werden, Netflix-Serien wollen angeschaut werden, Israel will kritisiert werden. Auch dann, wenn man keiner Lohnarbeit nachgeht, hat man extremen Freizeitstress, muss sporteln, spazieren gehen, sonnenbaden, Sex haben. Da bleibt nicht mehr viel Zeit übrig.
Es ist beim besten Willen nicht mehr alles zu schaffen. Wie damit umgehen? Wie Zeit gewinnen? Viele sehen sich dazu genötigt, sich der einen oder anderen Aufgabe zu entziehen beziehungsweise anstehende Pflichten an andere zu delegieren.
Bei Aufgaben und Tätigkeiten, die in Schulen, Büros, Ämtern erledigt werden, ist das leicht. Man lässt, was man nicht rechtzeitig hinkriegt oder worauf man keine Lust hat, einfach den Untergebenen oder den Praktikanten machen. Und oft reicht ja mittlerweile schlicht ein beiläufiger Knopfdruck und die KI macht’s für einen. Schüler und Studenten haben sich indessen, statt zu lesen und selbst zu denken (was kostbare Zeit frisst und auch nicht mehr zeitgemäß ist), aufs Copy-&-Paste-Prinzip verlegt. Schnippschnapp und zack: Fertig ist die Hausarbeit zu Günther Anders’ kulturpessimistischer Technik- und Medienkritik. »Was ich nicht weiß, steht im Internet«, so lautet die Devise. Warum lesen und schreiben, wenn es im Worldwide Web schon riesenhafte Haufen von Geschriebenem und Ungelesenem gibt? Wer googeln kann, braucht weder Hegel noch Adorno. Und wer Minecraft spielen muss, hat nun mal keine Zeit, den zehn Meter langen Wikipedia-Artikel zum »Ulysses« zu lesen.
Und selbst bei lästigen Pflichten, die von KI, Google & Co. nicht übernommen werden beziehungsweise nicht per Mausklick abgearbeitet werden können, haben sich mittlerweile Verfahrensweisen etabliert, bei welchen einfach die nächstbesten Passanten in nervtötende und zeitraubende Alltagsgeschäfte und -tätigkeiten integriert werden.
Ein kleines anschauliches Beispiel aus dem Berliner Alltag: Als ich gestern die Straße entlanglief, in der ich wohne, erblickte ich unmittelbar vor mir auf dem Gehweg einen frischen, noch dampfenden Hundehaufen. Unmittelbar daneben war eines dieser schwarzen Plastiktütchen platziert, die Hundehalter häufig mit sich führen, um darin den von ihrem Haustier hinterlassenen Kot zu verpacken. Das auf dem Gehweg neben dem Hundekothaufen liegende Tütchen war säuberlich aufgefaltet, sodass es in Form eines kleinen Rechtecks da lag.
Beides, Haufen und Tütenrechteck, war so sorgfältig nebeneinander arrangiert, geradezu pedantisch, dass man unverzüglich wusste: Das muss ein Hinweis an mich sein. Ganz so, als ob der Hundebesitzer mit der von ihm gestalteten Installation ein lautloses Signal senden, eine Botschaft – oder besser gesagt: einen stummen Vorschlag – hinterlassen wollte: »Geschätzter Mitbürger! Mein Hund war heute genötigt, diesen Weg als Abort zu verwenden. So ist nun mal das Tierleben. Ich bin ein vielbeschäftigter Mensch mit wenig Zeit: Familie, Partner, Hund, Arbeit, Alltag, Handy. Dieses ist auch dein Gehweg, den du täglich nutzt! Übernimm auch du Verantwortung für seine Sauberkeit, indem du dich um das Notwendige kümmerst.
Warum lesen und schreiben, wenn es im Worldwide Web schon riesenhafte Haufen von Geschriebenem und Ungelesenem gibt?
Ich habe in weiser Voraussicht Vorarbeit geleistet, indem ich dir, dem nach mir diesen Ort durchquerenden Passanten, nicht nur ein nagelneues Hundekottütchen spendierte, sondern es auch noch so liebevoll und unmissverständlich neben den Hinterlassenschaften meines Haustiers drapierte, dass dir sofort aufgehen dürfte, was deine Aufgabe als Verantwortung übernehmender Bürger sein könnte. Danke für dein Engagement und Verständnis. Bis zum nächsten Mal.«
Was lehrt uns diese kleine Episode? Im fortwährenden Kampf um ein Fitzelchen Zeit ist das Weiterreichen anstehender Aufgaben an andere, das Abwälzen ungeliebter Pflichten auf den Nebenmenschen mittlerweile die bevorzugte Methode, um dem unablässigen Rasen des Uhrzeigers ein kleines Schnippchen zu schlagen.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Schlüssel zu einer besseren Zukunft nicht in der radikalen Entschleunigung des Daseins liegt: Besser noch als das unbekümmerte Delegieren zeitraubenden Tuns an die nächstbesten Mitbürger wäre die vollständige Befreiung vom Diktat der Zeit. Dann wäre genug Zeit da, nicht nur für Sex, Sonnenbaden und Spazierengehen.
Sicher ist jedenfalls: Wer will, kann in der dann nahezu unendlich verfügbaren Zeit auch entspannt den »Ulysses« lesen. Oder »Mrs. Dalloway«. Oder »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192086.die-gute-kolumne-haufen-und-rechteck-sein-und-zeit.html