Als der Champion feststeht, jubelt die ganze Halle. In einem knappen Kampf hat der Mann mit dem blauen Tuchgürtel seinen Gegner in Rot von den Beinen gerissen, womit das Duell entschieden war. Kurz danach schwenken schon Scheinwerferlichter durch die Arena, gefolgt von Feuerwerk. Und jetzt fährt der Sieger, gekleidet in einen edlen Umhang, auf einer Art Thron mit Rollen durch die Halle. Jubel, Stolz, Ekstase. Was hier gerade in der südkoreanischen Stadt Mungyeong passiert ist, würde kaum jemand auf der Welt sofort begreifen. In Korea[1] aber gibt es keinen Menschen, der das nicht versteht. Gerade hat ein tagelanges nationales Turnier im Ssireum[2] sein Ende gefunden, das Fernsehen hat selbstverständlich live übertragen.
Ssireum, eine Art koreanische Version des Ringens, ist hier Nationalsport. Kein Sport ist so urkoreanisch wie dieser, kaum einer hat hier eine längere Geschichte. Diese jahrtausendealte Kampfdisziplin ist voll von altnationaler Symbolik: Die beiden halb nackten Ringer, die sich auf einem runden Kampffeld aus Sand begegnen, tragen Stoffgurte in roter und blauer Farbe – so wie sie jeweils in den Flaggen Nordkorea und Südkorea[3] zu sehen sind. Die Ringseiten, von denen die Kämpfer starten, sind nach koreanischen Bergen benannt. Die Schiedsrichter tragen Trachten, wie man sie von alten koreanischen Gemälden oder historischen Dramen kennt.
Unter den Ringern, dem anfeuernden Publikum und händeschüttelnden Offiziellen in Mungyeong sind ausschließlich Menschen aus Südkorea. Auf den Norden, der dieselbe Tradition teilt, sind nicht mal Verweise zu sehen. Fragt man nach, ob es auch mal Kämpfe mit Athleten aus Nordkorea[4] gebe, kommen abweisende Reaktionen. Das Thema sei »heikel«, heißt es. Über Nordkorea zu sprechen, ist tabu.
»Die politischen Umstände sind im Moment zu schwierig«, winkt ein stämmiger älterer Herr, der sich Brian nennt, flüsternd ab. Im südkoreanischen Ssireum-Verband ist er für internationale Angelegenheiten zuständig. Es habe doch sowieso keinen Sinn, gibt er zu verstehen. Dort gebe es das nordkoreanische Atomprogramm[5], das sich auch gegen den Süden richtet. Und hier die Militärmanöver gemeinsam mit den USA, die in Südkorea zahlreiche Militärbasen führen. Wie solle man sich da austauschen?
75 Jahre ist es her, dass zwischen den beiden Staaten nördlich und südlich der innerkoreanischen Grenze der Krieg[6] ausbrach, der genau genommen bis heute andauert. Am 25. Juni 1950 stürmten Soldaten der Demokratischen Volksrepublik Korea, kurz Nordkorea[7], über die Grenze zur Republik Korea in den Süden. Drei Jahre später – Millionen waren gestorben – wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der bis heute gilt.
Das einstige Gefühl des gemeinsamen Leids unter japanischer Herrschaft war einer tiefen gegenseitigen Abneigung gewichen, bis hin zum Hass. Versöhnung bleibt auch deshalb bis heute aus, weil die Menschen seit Kriegsende so gut wie nie die innerkoreanische Grenze überqueren konnten. Die Grenzregion entlang des 38. Breitengrades wird entmilitarisierte Zone genannt, ist aber die wohl am stärksten bewaffnete Grenze der Erde. Kontakt mit Menschen des jeweils anderen Koreas ist den Leuten auf beiden Seiten allgemein verboten.
In den vergangenen Jahren war es immer wieder der Sport, der die verfeindeten Bruderstaaten auf der koreanischen Halbinsel bewegen konnte[8], zumindest zu Gesprächen. Zuletzt gelang das rund um die Olympischen Winterspiele 2018[9] im südkoreanischen Pyeongchang: In einer höchst angespannten Lage schaffte es damals Südkoreas Präsident Moon Jae-in, eine Delegation aus Nordkorea einzuladen. Und plötzlich ging alles ganz schnell: Bei der Eröffnungsfeier der Spiele liefen beide Delegationen gemeinsam in die Olympia-Arena – und dies auch noch unter einer hellblauen Wiedervereinigungsflagge, die die Silhouette der gesamten Halbinsel zeigte. Im Eishockeyturnier der Frauen trat gar ein gesamtkoreanisches Team an.
Schon im Jahr 1991, zum Ende des Kalten Krieges, traten Nord- und Südkorea gemeinsam bei den Weltmeisterschaften im Tischtennis an, ebenso bei einem Jugendturnier im Fußball. 20 Jahre später siegte ein gemischtes Tischtennis-Doppel bei einem internationalen Einladungsturnier. Zudem sind Sportlerinnen und Sportler beider Staaten schon mehrmals gemeinsam bei internationalen Turnieren einmarschiert.
»Ssireum wäre wirklich besonders symbolträchtig für Austausch«, sagt Yoon Mee-hyang, eine linksliberale Politikerin und Aktivistin, in ihrem Büro in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. »Es würde eben auf beiden Seiten der Grenze darauf hinweisen, dass wir im Norden und Süden dieselben Ursprünge, Traditionen und auch dieselben Interessen haben!« Yoon, die selbst gern Ssireum im Fernsehen verfolge, würde sich über Turniere zwischen Athleten aus Nord und Süd jedenfalls freuen. In Mungyeong ist Ähnliches zu hören. »Uns würde es guttun, wenn Ssireum sich internationalisieren könnte«, ruft der 29-jährige Ringer Kim Duck-il gegen den Hallenlärm an. Denn auch wenn die Stimmung in der Arena elektrisierend ist: Mehr als einige Hundert Leute sind hier nicht zugegen.
Die Zeiten, als Ssireum vor dem Zweiten Weltkrieg Koreas beliebtester Sport war, sind lange vorbei. Viele glauben, sportliche Vergleiche mit dem Norden könnten einen neuen Boost geben. Nur ist das heute so schwierig wie nie. Da ist nicht nur die politische Lage, inklusive eines nationalen Sicherheitsgesetzes in Südkorea, das »Propaganda« für den Feind unter Strafe stellt, was schon für positive Äußerungen über Nordkorea gelten kann. Dies erklärt, warum Vertreter des Ssireum-Verbandes schmallippig werden, wenn es um Möglichkeiten des Austauschs mit dem Norden geht.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich Ssireum bisher eben nicht internationalisiert hat: Einen Weltverband gibt es nicht, auch keine WM. Und das macht es für Vertreter aus Nord und Süd schwieriger, miteinander zu sprechen. Denn fast immer, wenn der Sport bisher als Plattform für Austausch diente, spielten sich entsprechende Treffen am Rande internationaler Events auf dem Boden von Drittstaaten ab.
Das wahrscheinlich größte Hindernis ist der jahrzehntelangen Teilung geschuldet. »Unsere Athleten könnten gar nicht gegeneinander antreten«, sagt Verbandsvertreter Brian. »Unsere Einteilungen in Gewichtsklassen sind unterschiedlich. Auch der Ring im Norden ist ein bisschen anders.« Und wer nicht nach denselben Regeln spielt, kann sich im Sport – der sich ja gerade wegen seiner allgemeingültigen Regeln oft über politische Differenzen hinwegsetzen kann – nicht aneinander messen. Oder sind verschiedene Proportionen des Rings und Gewichtsklassen nur Ausreden? In der Halle in Mungyeong wird stumm mit den Schultern gezuckt. Und genickt. Seit Juni regiert in Südkorea der Liberale Lee Jae-myung, der angekündigt hat, nach Jahren der Konfrontation wieder den Austausch mit Nordkorea zu suchen. Da könnte auch der Sport helfen, hört man.