Wien – mit der Bim, wie die Straßenbahn im Volksmund genannt wird, geht es in den Südosten der Stadt bis zur Endstation: Tor 2 des Zentralfriedhofs. Vor dem Haupteingang riecht es am Würstelstand nach deftigen Spezialitäten. Das Friedhofscafé offeriert Strudel mit Schlagobers. Fiaker stehen für eine letzte Runde durch den zweitgrößten Friedhof Europas bereit.
Eine Stadt der Toten und der Lebenden – 2,5 Quadratkilometer groß, 330 000 Gräber verteilt über ein labyrinthartiges Parkgelände. Jogger ziehen ihre Runden, Schüler besuchen Gedenkstätten, manche kommen einfach nur zum Innehalten. Der Zentralfriedhof ist Naherholungsgebiet und Erinnerungsort zugleich.
Julia Stering von der Friedhöfe Wien GmbH führt über das Gelände. Die Mitarbeiterin zeigt hinter Grabreihen eine Fläche mit Beeten, auf denen Salat, Ringelblumen und Karotten sprießen: »Hier gibt es Urban Gardening[1]. Jene, die ohnehin ein Grab pflegen, konnten sich ein Beet aussuchen und bepflanzen.«
Ganz ohne Pestizide, denn Bio-Qualität ist auf den 40 Parzellen Pflicht. Das Projekt bringt Leute zusammen – beim Gärtnern, beim Reden, beim Innehalten, so Stering. »Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, Menschen zu Lebzeiten auf den Friedhof zu holen«, erklärt sie.
Tatsächlich ist die Beziehung der Wiener und Wienerinnen zum Tod tief verwurzelt in der städtischen Kultur. Die »schöne Leich«[2], das prachtvolle Begräbnis mit sechsspänniger Kutsche, professionellem Grabredner und Leichenschmaus, dem traditionellen Essen nach der Beerdigung, ist legendär.
Doch auf dem Friedhof bleibt die Zeit nicht stehen – das zeigt sich im wachsenden Interesse an alternativen Bestattungsformen. »Das Wiener Naturgrab ist ein Beispiel dafür«, erklärt Stering. Bis 2022 war eine Feuerbestattung Voraussetzung, jetzt reicht »ein vollständig abbaubarer Sarg ohne Metall- und Synthetikzusätze«. Das habe zunächst für viel Aufruhr gesorgt, aber nun sei die Nachfrage groß.
Der Wunsch nach Individualität im Tod zeigt sich auch im wachsenden Interesse an anderen Formen des Naturgrabes: Die Urnen der Eingeäscherten werden dabei am Fuße ausgesuchter Bäume oder an den Wurzeln von Pflanzenstauden beigesetzt. Die Namen der Verstorbenen können an einer gemeinsamen Gedenkstätte eingraviert werden – dadurch entfallen die Kosten für die Grabgestaltung und –pflege.
Der Friedhof sei zu einem Ort der Möglichkeiten geworden, sagt Stering: »Er ist ein Spiegel der Gesellschaft. Über viele Jahrhunderte hinweg zeigt er, was Menschen sich wünschen. Bei uns kann jeder beigesetzt werden – unabhängig von Religion oder Konfession«, betont Stering. Auf dem Zentralfriedhof finden täglich 13 bis 15 Beerdigungen statt, besonders viele an Freitagen und Samstagen.
Auf unserem Spaziergang treffen wir Stefan Riedl. Mit dem Historiker geht es zu einem der prominentesten Teile des Areals: den über 1000 Ehrengräbern. Hier ruhen Größen wie Ludwig van Beethoven[3], Franz Schubert, Johannes Brahms und Johann Strauss. Doch nicht alle wurden zu Lebzeiten hier beigesetzt. Viele Prominente, erklärt Riedl, habe man von anderen Friedhöfen exhumiert und auf den Zentralfriedhof umgebettet – sozusagen ein posthumer VIP-Transfer.
Riedl kennt sie alle – auch die schaurigen Anekdoten. Beethoven liegt tatsächlich auf dem Zentralfriedhof, allerdings vermutlich mit dem fremden Schädel, den man bei der Umbettung ins Ehrengrab 1888 auf dem Währinger Ortsfriedhof vorgefunden und eingepackt hatte. Im Vergleich dazu hatte Johann Strauss’ Sohn, den der Donauwalzer unsterblich gemacht hat, noch Glück: Ihm soll ein Grabräuber nur das Gebiss gestohlen haben.
Ein Pilgerort ist der Grabstein von Udo Jürgens: Der 2014 gestorbene Sänger und Entertainer liegt unter einem sechs Tonnen schweren Marmorklavier – als Totentuch gestaltet[4]. Funkelnd und außergewöhnlich ist auch das dreiteilige Grabmal von Hans Hölzl alias Falco: ein etwa drei Meter hoher roter Obelisk als Symbol für Ruhm, eine Plexiglasscheibe in Form einer CD mit seinen Alben – und eine abgebrochene Stele für die Vergänglichkeit. »Eines der am meisten besuchten Gräber am Wiener Zentralfriedhof«, weiß Riedl zu berichten.
»In Wien musst erst sterben, bevor Sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst lang.« Helmut Qualtinger wusste aus eigener Erfahrung, wie wahr dieses, sein eigenes Bonmot war. Zu Lebzeiten wurde Wiens großer Satiriker und Schauspieler bewundert und angefeindet, vor allem wegen seiner kritischen, oft bitter-satirischen Texte, die die österreichische Nachkriegsgesellschaft, ihren Opportunismus, ihre Verdrängung der NS-Vergangenheit und ihren Kleinbürgergeist bloßstellten.
Qualtinger wollte kein Ehrengrab, liegt aber genau in einem solchen. Ob wegen seiner Texte oder seiner Mitgliedschaft im Verein für Senkrechtbestattung – einer nicht ganz ernst gemeinten Initiative, die platzsparende, vertikale Bestattungen propagierte –, Stefan Riedl vermag das nicht zu entscheiden.
Diese skurrile Idee zur Platzersparnis konnte sich ebenso wenig durchsetzen wie der josephinische Sparsarg. Kaiser Joseph II. verordnete 1784 den wiederverwendbaren Sarg mit Bodenklappe auf der Unterseite, durch die Tote ins Grab befördert werden konnten – und der mehrfach verwendet werden sollte. Aber so genial die Erfindung auch war, die Wiener und Wienerinnen lehnten sie strikt ab, machten ihrer Entrüstung in Protestmärschen Luft und zwangen den Kaiser, seine Verordnung wieder zurückzunehmen.
Noch ein Kuriosum: der sogenannte Rettungswecker aus dem 19. Jahrhundert. Um Scheintote zu erkennen, wurden Verstorbene 48 Stunden aufgebahrt. Die Toten wurden mit einer Schnur verbunden, die zu einem Wecker führte – meist in der Wohnung des Totengräbers –, um im unwahrscheinlichen Fall einer Rückkehr ins Leben Alarm zu schlagen. »Doch es gibt keine Hinweise, dass je jemand gerettet wurde«, sagt Riedl. »Aber es beruhigte die Seelenruhe.«
Nicht nur wegen des Rettungsweckers wird der Zentralfriedhof als kulturelles Erbe Wiens geschätzt – auch wenn beide noch nicht auf der Unesco-Weltkulturerbe-Liste stehen. Ganz besondere Grabmäler sind jene der großteils christlich-orthodoxen Roma-Gemeinschaft. Viele dieser Gräber werden schon zu Lebzeiten geplant und gestaltet.
Riedl erinnert sich an eine Führung: »Vor einem dieser Gräber stand ein Tisch voller Speisen. Familie und Freunde feierten mit dem Verstorbenen, stellten ihm symbolisch einen Teller auf das Grab. Wer vorbeikommt, wurde eingeladen mitzuessen.« Das sei eine ganz eigene, sehr lebendige Trauerkultur. »Da ist es fast schon unhöflich, wenn man Nein sagt.«
»Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, Menschen zu Lebzeiten auf den Friedhof zu holen.«
Julia Stering Friedhöfe Wien GmbH
Heutzutage ist der Zentralfriedhof einer der bekanntesten Orte Wiens, ein touristischer Hotspot – und gleichzeitig Mahnmal und Gedenkstätte für NS-Opfer, KZ-Häftlinge, Widerstandskämpfer und die ermordeten Kinder vom Spiegelgrund. »Das war eine sogenannte medizinische Anstalt der Nationalsozialisten.« Dort wurden Kranke, Behinderte und sogenannte nicht erziehbare Kinder eingeliefert. An ihnen wurden unmenschliche medizinische Experimente durchgeführt. »Viele der ermordeten Opfer waren jünger als drei Jahre.«
Inzwischen werfen die Grabsteine lange Schatten vor der untergehenden Sonne – an diesem späten Nachmittag. Stefan Riedl empfiehlt einen letzten Abstecher in den Friedhofsshop, um dem Sensenmann mit einem Lächeln zu begegnen.
Dort gibt es Devotionalien mit schwarzem Humor: einen Eiskratzer mit der Aufschrift »Mit uns kratzen Sie besser ab«, auf einem T-Shirt steht »Friedhöfe Wien – bei uns liegen Sie richtig!«. Ursprünglich wurden Bonbons und Kugelschreiber von der Bestattung Wien als Werbegeschenke verteilt – vorzugsweise an Alten- und Pflegeheime. Die Nachfrage war bald so groß, dass man zum professionellen Merchandising überging.
Der Wiener Zentralfriedhof ist mehr als ein Ort der letzten Ruhe. Er ist ein Spiegel der Gesellschaft, ein Ort der Geschichte, des Abschieds, der Begegnung – und ein Platz, an dem der Tod seinen Schrecken verliert. Mit einem Lächeln, mit Tränen, mit einem Gedicht – oder einem Gartenspaten. Ganz wienerisch – und manchmal mit Stil.