nd-aktuell.de / 25.06.2025 / Politik

Die alltägliche Staatsgewalt in Brasilien

Mehr als die Hälfte der 210 Millionen Brasilianer stammt von Versklavten ab. Wie ist eigentlich die Lage des schwarzen Proletariats?

Vanessa E. Thompson und Raul Zelik
»Die schwarze Geschichte strömt in meinem Blut« - so wie der Rassismus das Schwarzsein von Menschen erfindet, ist das politische Bekenntnis zur »Blackness« nicht unbedingt eine Frage der Hautfarbe.
»Die schwarze Geschichte strömt in meinem Blut« - so wie der Rassismus das Schwarzsein von Menschen erfindet, ist das politische Bekenntnis zur »Blackness« nicht unbedingt eine Frage der Hautfarbe.

Salvador/Bahía, mit 2,5 Millionen Einwohner*innen Brasiliens fünftgrößte Stadt: eine vierspurige Schnellstraße, die senkrecht stehende Tropensonne brennt auf der Haut. Schon der Weg zur Gewerkschaft der Hausangestellten Sindoméstico vermittelt einen Eindruck von den Klassenverhältnissen in Südamerikas bevölkerungsreichstem Land. Obwohl 7 Millionen Brasilianer*innen als Hausangestellte arbeiten – die Zahl sämtlicher regulär beschäftigter Industrie-Arbeiter*innen ist mit 11,5 Millionen nicht viel größer –, ist ihre Gewerkschaft kaum zu finden. Das kleine Häuschen, in dem Sindoméstico seinen Sitz hat, liegt eingezwängt zwischen einer Autobahnbrücke und einem an den Hang gebauten Armenviertel; bei Google Maps wird es nicht richtig angezeigt. Doch bei Passant*innen ist Sindoméstico überraschenderweise bekannt. Immer wieder heißt es: »Hier geradeaus, dann kurz vor der großen Auffahrt rechts.«

Milca Martins, 55-jährige Vorsitzende der Gewerkschaft, wundert das nicht. Sindomésticos erreicht zwar nur einen Bruchteil der 7 Millionen Brasilianer*innen, die als Putzfrauen, Kindermädchen, Gärtner oder Chauffeure bei reichen Familien arbeiten. Doch der Warteraum im Gewerkschaftshaus ist voll: Mehr als ein Dutzend Personen – alles Frauen, fast alle schwarz, einige mit Kindern – sitzen unter einem großen Ventilator, warten auf die Rechtsberatung und lassen sich von einem Fernseher berieseln, auf dem Reportagen über Gang-Kriminalität und Polizeirazzien flimmern.

»Für Hausangestellte ist es sehr schwer, sich zu organisieren«, erläutert Martins, als sie eine Ecke im Büro für das Interview freigeräumt hat. Unter den Regierungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT und vor allem durch ein Gesetz aus dem Jahr 2015, durch das Hausangestellte in das normale Arbeitsrecht integriert wurden, habe sich zwar einiges zum Besseren gewendet. »Trotzdem arbeiten die meisten nach wie vor ohne registrierten Vertrag«, erzählt Martins. »Viele kennen ihre Rechte nicht – oder haben Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie sich staatlich registrieren lassen.« Tatsächlich ist die Zahl der regulär beschäftigten Hausangestellten seit 2015 sogar gefallen: von 1,64 Millionen auf heute 1,34 Millionen Personen.

Das größte Hindernis gewerkschaftlicher Organisierung sei die Vereinzelung. »Viele von uns Älteren sind als Kinder zu der Familie gebracht worden, bei der wir arbeiten. Das heißt, wir sind praktisch entführt worden und haben entrechtet unter Fremden gewohnt.« Die wichtigste Aktivität der Gewerkschaft sei deshalb ein offenes Treffen am Sonntag, bei dem man andere Hausangestellte kennenlernen könne.

Der Schatzmeister von Sindomésticos, der sich nach einigen Minuten zum Interview dazugesellt, stimmt sofort zu. Francisco Xavier de Santana, ebenfalls über 50, ebenfalls schwarz, ist an diesem Vormittag der einzige Mann im Gewerkschaftshaus: »Als Hausangestellter lebt man einsam, fast wie ein Schatten. Man redet wenig, wird nie etwas gefragt. Wegen der Isolation können viele auch keine eigene Familie gründen. Für mich war es so befreiend, hier eine Gemeinschaft zu finden.« Weil 90 Prozent der Hausangestellten Frauen sind, sei es Männern allerdings oft peinlich, der Gewerkschaft beizutreten.

Mit der Frage, ob sie ihre Arbeit in der Tradition abolitionistischer Bewegungen, also der Kämpfe zur Abschaffung der Sklaverei sähen, wissen die beiden Gewerkschafter*innen sofort etwas anzufangen. Die Realität der Hausangestellten sei nicht zu trennen von der Geschichte der Sklaverei, die in Brasilien erst 1888 abgeschafft wurde. »Auf den Plantagen gab es zwei Arten von Sklaven: Die einen mussten auf den Feldern arbeiten, die anderen im Haushalt«, erklärt Martins. Nach der Sklaverei habe sich für viele faktisch wenig geändert: Auf den Plantagen und Fazendas blieben sie der Willkür ihrer Chefs ausgeliefert.

Für Martins, die keinen Hehl daraus macht, dass sie wie viele Hausangestellten sexualisierte Gewalt durch einen ihrer Arbeitgeber erlitten hat, sind die Klassenverhältnisse untrennbar mit Rassismus und Sexismus verknüpft: »Zwei Drittel von uns sind schwarz oder braun, viele verdienen weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 1500 Reais (233 Euro). Und lange hat man uns auch noch Unterkunft und Nahrungsmittel vom Lohn abgezogen – für ein stickiges Zimmer ohne Fenster.«

Weil Hausangestellte kaum erfolgreiche Arbeitskämpfe führen können, sind politische Reformen umso wichtiger. Auch aus diesem Grund identifizieren sich die Gewerkschafter*innen stark mit den PT-Regierungen. »Vor der Reform von 2015 mussten wir den ganzen Tag arbeiten, wenn der Chef das wollte«, erläutert Martins. »Das neue Gesetz schreibt feste Arbeitszeiten, bezahlte Überstunden, gesetzlichen Urlaub und eine Arbeitslosenversicherung vor.«

»Viele von uns sind als Kinder zu der Familie gebracht worden, bei der wir arbeiten. Das heißt, wir sind praktisch entführt worden und haben entrechtet unter Fremden gewohnt.«

Milca Martins 
Gewerkschaft der Hausangestellten

Zum Staat haben die beiden Gewerkschafter*innen deshalb ein erstaunlich dialektisches Verhältnis: Wenn von Staatschef Lula die Rede ist, sprechen sie von »unseren Präsidenten«. Geht es hingegen um die politische Macht im Allgemeinen, fällt schnell der Begriff des »mörderischen Staates«. Tatsächlich führt die brasilianische Militärpolizei einen kaum verhohlenen Krieg gegen die schwarze Bevölkerung. Allein in Bahía, dem Bundesstaat mit dem höchsten Anteil an Afrobrasilianer*innen, erschoss die Polizei 2023 mehr Menschen als in den gesamten USA: 1700 Personen, die meisten von ihnen junge schwarze Männer.

Die Gewerkschafterin Martins sieht hier einen eindeutigen Zusammenhang: In den Armenvierteln würden kaum soziale Infrastrukturen zur Verfügung gestellt, gleichzeitig werde viel Geld für die bewaffnete Präsenz der Staatsmacht ausgegeben. Und bei ihren Razzien erschieße die Militärpolizei rücksichtslos Anwohner*innen. Dass die True-Crime-Dokumentationen, die im Warteraum von Sindomésticos über den Bildschirm flimmern, die Akzeptanz für diesen Polizeiterror herstellen, fällt den Gewerkschafter*innen schon gar nicht mehr auf. So normalisiert ist die Gewalt des Staates.

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Milca Martins und Francisco Xavier de Santana (Mitte des Transparents) von der Gewerkschaft der Hausangestellten Sindoméstico.
Milca Martins und Francisco Xavier de Santana (Mitte des Transparents) von der Gewerkschaft der Hausangestellten Sindoméstico.

Die Anthropologin Juliana Borges, die in São Paulo arbeitet, beschreibt die Lage ganz ähnlich wie Gewerkschafterin Martins. Obwohl Brasiliens größte Industriemetropole deutlich weniger schwarz ist als Salvador, richtet sich das Straf- und Polizeisystem auch hier in erster Linie gegen die nicht weiße Bevölkerung. Borges, die in einem Armenviertel aufgewachsen und in der abolitionistischen Bewegung aktiv ist, hält die Masseninhaftierung von Schwarzen für ein zentrales Merkmal des brasilianischen Kapitalismus. »Mit 800 000 Inhaftierten haben wir die drittgrößte Gefängnisbevölkerung der Welt. Fast alle sitzen wegen des Drogenkriegs«, erklärt Borges. »Paradoxerweise ist der Straf- und Polizeistaat ausgerechnet in einer Phase relativen Wohlstands ausgebaut worden. Als unter der zweiten Lula-Regierung 2007 bis 2011 aufgrund von Ernährungs- und Wohnungsprogrammen eigentlich der größte soziale Fortschritt möglich wurde, hat man gleichzeitig den Drogenkrieg intensiviert.« Tatsächlich hat sich die Zahl der Gefängnisinsassen seit den 90er Jahren fast verzehnfacht.

Aus Borges’ Sicht dient die Drogenpolitik seit dem frühen 19. Jahrhundert als Instrument zur Kontrolle der schwarzen Bevölkerung. »Es fällt auf, dass das Marihuana-Verbot, das in den 1830er Jahren verhängt wurde, den Fokus allein auf die Konsumenten legte. Marihuana war akzeptiert. Was den Eliten Sorge bereitete, war der spirituelle, medizinische und Freizeitkonsum der rassifizierten Bevölkerung. Die Versklavten sollten durcharbeiten.«

Die Verschärfung des Drogenkriegs in den letzten zwei Jahrzehnten steht für Borges in dieser Tradition. In der Öffentlichkeit würden die Jugendlichen aus den Favelas als Killermaschinen der Drogenmafia stigmatisiert. »In Wirklichkeit sind die meisten Gefangenen Jugendliche, die noch nie zuvor verurteilt wurden. Nur 15 Prozent sitzen wegen Gewaltverbrechen. Und fast alle Häftlinge stammen aus Armenvierteln.«

Borges spricht in diesem Zusammenhang von einem rechten »Straf-Populismus«, der aus den USA importiert worden sei. Begünstigt werde die Massenkriminalisierung der schwarzen Arbeiterklasse dadurch, dass Aussagen von Polizeizeugen mittlerweile als ausreichend für eine Verurteilung erachtet werden. »Dabei wird nicht mehr berücksichtigt, dass Polizisten ein Interesse an Verurteilungen haben, weil diese ihnen bei der Beförderung angerechnet werden.«

Die Vorstellung, dass sich die organisierte Kriminalität, die viele Armenviertel unter Kontrolle hat, mit Strafapparaten zurückdrängen lasse, hält Borges für absurd. »Die bekannteste Mafia-Organisation in Brasilien, das Comando Vermelho (Rote Kommando), ist Ende der 70er Jahre im Gefängnis gegründet worden. Die brasilianischen Knäste sind Rekrutierungsorte dieser Gruppen. Die Jugendlichen werden wegen kleinster Vergehen eingesperrt und kommen als Kriminelle wieder raus.«

Den von vielen afrobrasilianischen Organisationen erhobenen Vorwurf, der Staat verübe einen regelrechten »Genozid« an der schwarzen Bevölkerung, hält Borges vor diesem Hintergrund für keineswegs abwegig. »Von den fast 50 000 Menschen, die in Brasilien jährlich umgebracht werden, sind 80 bis 90 Prozent afrobrasilianisch. Fast alle Gefängnisinsassen sind junge Schwarze.« Sowohl die kriminellen Organisationen als auch die Polizeirepression seien Mechanismen, um die Armutsbevölkerung zu kontrollieren.

Die Regierungswechsel zwischen PT und der extremen Rechten auf gesamtbrasilianischer Ebene habe bei dieser Entwicklung kaum eine Rolle gespielt. Für Borges ließe sich diese nur durch eine abolitionistische Bewegung stoppen. »Die wichtigsten politischen Ziele für mich wären eine Legalisierung der Drogen, die der Militarisierung der Armenviertel den Boden entzieht, und eine Reform der Haushaltspolitik. Statt immer über die Polizei zu debattieren, sollten wir dafür kämpfen, dass bestimmte Sozialausgaben fest vorgeschrieben werden.« Schon heute schreibt die brasilianische Verfassung den Kommunen vor, mindestens ein Viertel ihrer Ausgaben für das Bildungswesen auszugeben. Andere Sozialausgaben könnten ebenso etabliert werden. »Wir müssten deutlich machen, dass das Geld, das heute für Waffen und Kontrolltechnologie ausgegeben wird, auch ein Wohnhaus oder Wasseranschlüsse finanzieren könnte.«

Selbst Polizisten, hofft Borges, könne man vermitteln, dass militärische Aufrüstung keine Sicherheit bedeute. »In Brasilien bringen sich Polizisten heute häufiger selbst um, als dass sie von Fremden erschossen werden. Wem nützt so ein System?« In Südamerikas größtem Land zeigt sich deutlich, wie sonst kaum irgendwo, wie eng der Ausbau staatlicher Gewaltapparate und soziale Ungleichheit miteinander verschränkt sind.