nd-aktuell.de / 25.06.2025 / Politik

Brasilien: Für Reparationen und ein gutes Leben

Die »Marcha das Mulheres Negras« will im November eine Million schwarze Brasilianerinnen auf die Straße bringen

Interview: Vanessa E. Thompson / Raul Zelik
In den »Quilombos«, den Widerstandsdörfern geflohener Sklaven, leben noch heute Millionen Brasilianer.
In den »Quilombos«, den Widerstandsdörfern geflohener Sklaven, leben noch heute Millionen Brasilianer.

Das Movimento Negro Unificado (MNU, »Vereinigte schwarze Bewegung«) wurde 1978, also in der Hochzeit der brasilianischen Militärdiktatur, gegründet. Was waren das für Bedingungen?

Es war mehr oder weniger verboten, über Rassismus in Brasilien zu sprechen. Die Militärs behaupteten, die »Rassen« würden »harmonisch koexistieren«. Der MNU entstand zunächst als Anti-Diskriminierungs-Bewegung. Erst nach der Ermordung eines jungen Schwarzen auf einer Polizeiwache verstand sich der MNU als Ort schwarzer Selbstorganisierung. Prägend war die Erfahrung, dass zwar alle Linken von der Diktatur betroffen waren, dass aber Schwarze nicht wie politische Gefangene behandelt wurden. Wir haben deshalb sehr früh gesagt, dass jeder gefangene Mensch ein politischer Gefangener ist. Die systematische Ungleichheit und die fehlende Sozialpolitik sind verantwortlich dafür, dass so viele Schwarze im Gefängnis sitzen.

Die staatliche Repression – Polizei, Justiz und Gefängnisse – haben von Anfang an eine zentrale Rolle in der brasilianischen Schwarzen-Bewegung gespielt?

Unbedingt. Ein Großteil der Gefängnisinsassen in Brasilien ist schwarz oder braun, und deshalb ist der Kampf um die Gefängnisse auch ein zentrales Thema in der antirassistischen Bewegung. In São Paulo beispielsweise haben wir AMPARAR gegründet, eine Nichtregierungsorganisation, die Freunde und Angehörige von Gefangenen organisiert. Die abolitionistische Forderung nach Abschaffung der Gefängnisse ist bei uns sehr verbreitet. Außerdem gibt es zahlreiche Gruppen, die für eine andere Drogenpolitik kämpfen. Denn die Kriminalisierung der Drogen ist das Instrument zur Inhaftierung schwarzer Menschen.

Wo steht der schwarze Feminismus? Ihr mobilisiert ja gerade für einen »Marsch schwarzer Frauen« in die Hauptstadt Brasilia.

Ja, die Marcha das Mulheres Negras por Reparação e Bem Viver (Marsch schwarzer Frauen für Reparation und ein gutes Leben) will Ende November eine Million Frauen auf die Straße bringen. Es ist nach 2015 der zweite Marsch dieser Art. Und auch bei der Marcha spielt die Polizei- und Gefängnisfrage eine wichtige Rolle. Die Zahl der inhaftierten Frauen hat sich in Brasilien in den letzten zehn Jahren versechsfacht.

In welcher historischen Tradition seht ihr diese Kämpfe?

Bei der Gründung 1978 war der MNU sehr von den antikolonialen afrikanischen Befreiungsbewegungen und von der Bürgerrechtsbewegung in den USA inspiriert. Gleichzeitig kamen die meisten Gründungsmitglieder aus marxistischen Gruppen. Es waren junge Leute, die von Figuren wie Malcolm X oder der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung beeinflusst waren. Für die Gründung des MNU gab es vor allem zwei Anlässe: den Tod eines 20-jährigen Schwarzen, der wegen des Diebstahls von Früchten auf dem Markt von der Polizei verhaftet und zu Tode gefoltert worden war, und die rassistische Diskriminierung einer Sportmannschaft, die man in einem Club nicht in den Pool lassen wollte. Die zentralen Forderungen des MNU sind seitdem weitgehend die gleichen geblieben: der Kampf gegen die spezifische Unterdrückung schwarzer Frauen, für gleichen Arbeitslohn, ein Ende der Diskriminierung von Schwarzen in den Medien und internationale Solidarität ... Ich denke, der MNU hat auch ziemlichen Einfluss auf die feministische Bewegung in Brasilien gehabt, die in den 1970er Jahren in erster Linie von weißen Frauen aus der Mittelschicht repräsentiert wurde. Deren wichtigste Forderung war die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Für schwarze Frauen, die immer schon lohnarbeiten mussten, war das natürlich ein Witz. Das MNU hat wesentlich dazu beigetragen, dass in den 1980er Jahren Texte schwarzer Feministinnen wie Angela Davis, Lélia Gonzalez oder Luiza Bairros bekannt wurden.

Und wie verhält es sich mit weiter zurückreichenden Kämpfen – also dem Widerstand gegen die Plantagenökonomie? In Brasilien gibt es ja die Tradition der Quilombos – von Widerstandsdörfern, die von geflohenen Sklav*innen gegründet wurden und die teilweise noch heute existieren.

Die Quilombos sind für uns ein sehr wichtiger Bezugspunkt. Selbst nach offiziellen Zahlen gibt es in Brasilien heute 8000 Quilombos mit einer Bevölkerung von mehr als einer Million Menschen – und zwar im ganzen Land, von der Grenze zu Uruguay im Süden bis nach Amazonien im Norden. In den fast vier Jahrhunderten der Sklaverei haben sich manche Quilombos viele Jahrzehnte lang bewaffnet verteidigen können. Aber das war auch nicht die einzige Form des Widerstands. Es gab zum Beispiel abolitionistische Gesellschaften, die sich gründeten, um Schwarze freizukaufen. Diese sehr unterschiedlichen Widerstandsformen sorgten dafür, dass zwei Drittel der Schwarzen bereits frei waren, als 1888 die Sklaverei in Brasilien abgeschafft wurde.

In Europa ist im letzten Jahrzehnt vor allem ein liberaler Antirassismus stark geworden, der auf Integration und Repräsentation setzt und materielle Verhältnisse weitgehend ausspart. Welche Forderungen stehen in der Schwarzen-Bewegung in Brasilien im Vordergrund?

Ich glaube, die wichtigste Forderung heute ist die nach dem Recht auf Leben. Die Staatsgewalt ist so extrem, die alltägliche Bedrohung so groß, dass das alle Bereiche durchzieht. In diesem Sinne sprechen wir beispielsweise auch nicht von Klimakrise, sondern von Umweltrassismus, denn die arme schwarze Bevölkerung der Peripherien ist von den ökologischen Zerstörungen viel stärker betroffen als die Reichen. Ich würde sagen, wir haben ein breites Verständnis von Antirassismus: Wir sind für Quoten im öffentlichen und privaten Sektor, aber gleichzeitig geht es uns um öffentliche Gesundheitsversorgung, Bildungswesen, Wohnraum. Eine emblematische Forderung, die ja auch im Mittelpunkt des Frauenmarsches im November steht, ist die nach Reparationen. Da gibt es heute vor allem zwei Positionen: Die einen haben ausgerechnet, wie viel Entschädigung jedem Schwarzen aufgrund der Versklavung zustehen. Das ist aber nicht die Position des MNU. Wir sind der Ansicht, dass keine Geldsumme die Folgen der Versklavung und seiner strukturellen Folgen aufwiegen kann. Für uns steht im Zentrum, dass die Staaten, die von der Versklavung profitiert haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Die strukturelle Ungleichheit muss verändert werden – international zwischen den reichen Ländern und Afrika, und in den Ländern der Diaspora muss die strukturelle Benachteiligung von Schwarzen bekämpft werden. Deshalb lautet das Motto des Frauenmarsches: für Reparationen und ein gutes Leben.