Zehn Jahre nach der Konferenz in Addis Abeba findet in Sevilla vom 30. Juni bis 4. Juli die vierte internationale Konferenz über Entwicklungsfinanzierung statt. 2015 ging es hauptsächlich darum, Finanzierungsquellen für die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der Vereinten Nationen zu erschließen, die bis 2030 erreicht werden sollen. Wie ist die bisherige Bilanz?
Leider verheerend. Die UN-Mitgliedstaaten hängen weit hinter den Zielvorgaben zurück und teilweise hat sich die Situation sogar im Vergleich zu 2015 verschlechtert. Das liegt vor allem an vier globalen Großereignissen der vergangenen Jahre: die Covid-19 Pandemie, der Ukraine-Krieg, die gemeinsam als Drittes die globale Inflationskrise befeuerten und schlussendlich die zweite Amtszeit von Donald Trump. Die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben und höchstens 2,15 Dollar am Tag haben, ist gegenüber 2022 um 23 Millionen auf 712 Millionen gestiegen. Heute hungern 100 Millionen Menschen mehr als 2019. Unterm Strich waren die vergangenen fünf Jahre schlecht für die globale Ökonomie und das hatte teils dramatische Auswirkungen auf viele Menschen. Die Lebenserwartung ist gefallen. Fortschritte, die es in den 2010-Jahren teilweise gab, sind zunichtegemacht worden.
In Äthiopien einigte sich 2015 die Staatengemeinschaft auf den Addis-Abeba-Aktionsplan. Wurde der umgesetzt?
Die in Addis Abeba vertretenen zivilgesellschaftlichen Organisationen[1] bewerteten den Aktionsplan damals schon als unzureichend. Aber nicht mal dieser Aktionsplan wurde umgesetzt. Das zeigt sich insbesondere bei den Mitteln für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit, die entgegen den Vorgaben gesunken sind. Das gilt nicht erst seit Donald Trump und nicht nur für die USA. Auch in Deutschland sind Kürzungen im Entwicklungshaushalt seit mindestens 2023[2] gang und gäbe, wenn man die Inflation mit einbezieht, sogar schon länger. Das Versprechen der Industrieländer, darunter Deutschland, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) auszugeben, stammt aus dem Jahr 1970. Es wird von immer weniger Ländern eingehalten, auch von Deutschland nicht. Hinzu kommen die Verwerfungen in der Handelspolitik durch Trumps Zollerhöhungen und die sich weiter verschärfende Schuldenkrise im Globalen Süden. Es steht auch jenseits der Kriege schlecht um die Weltlage.
Zum Erreichen der SDGs müssten laut Hochrechnungen bis 2030 zusätzliche 2,5 bis 4 Billionen US-Dollar jährlich aufgebracht werden.
Ich bin kein Freund dieser Berechnung von riesigen Finanzierungslücken, wo alles in einen Topf geworfen wird und deswegen die Zahlen sehr schnell enorm groß werden. Aber davon unbenommen steht fest, dass mehr Mittel aufgebracht werden müssen, um für nachhaltige Entwicklung zu sorgen. Das gilt für Maßnahmen im sozialen Bereich ebenso wie für Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen. Vor allem in den öffentlichen Haushalten gibt es gewaltige Finanzierungslücken, denen enorme Kapitalakkumulationen im privaten Bereich gegenüberstehen.
Die öffentlichen Lücken mit privatem Kapital zu schließen, zum Beispiel über progressive Besteuerung und Bekämpfung von Steuerhinterziehung, drängt sich als ein Lösungsansatz nahezu auf. Liegen in Sevilla solche Vorschläge auf dem Tisch?
Es geht in die Richtung. Auf der einen Seite geht es darum, die Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte zu verbessern, vor allem im Globalen Süden die Steuereinnahmen zu erhöhen. Auf der anderen Seite versuchen die Regierungen, private Kapitalmittel in Investitionen für nachhaltige Entwicklung zu lenken. Dafür sollen den privaten Investoren Anreize geboten werden. Dabei geht es auch um die Subventionierung privater Investitionen. Wenn das nicht verbunden wird mit veränderten internationalen Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass private Investitionen die nachhaltige Entwicklung im Globalen Süden wirklich vorantreiben, droht das Altbekannte: Unterm Strich fließen trotz der Investitionen mehr Mittel aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden, weil die Gewinne der privatwirtschaftlichen Investitionen nicht im Süden verbleiben, sondern in den Norden transferiert werden. Bisher subventioniert der Globale Süden den Globalen Norden. Der Kapitalabfluss liegt über dem Zufluss. Das muss aufhören.
Wird in Sevilla da angesetzt?
Es gibt zarte Pflänzchen, zum Beispiel was den Bereich internationale Steuerkooperationen angeht. In der Abschlusserklärung, auf die man sich vorab, am 17. Juni, ohne die USA verständigt hat, gibt es positive Ansätze. Es wird sich für eine Besteuerung der Superreichen ausgesprochen, für ein globales Transparenzregister, was die Eigentumsverhältnisse von Unternehmen angeht, um die Individuen zu benennen, die hinter verschachtelten Firmenkonstrukten stehen und von ihnen profitieren. Das ist alles nicht falsch, es führt aber nicht weit genug. Denn systemische Reformen bleiben in der Abschlusserklärung ausgespart, egal ob im Steuerbereich oder im Bereich der öffentlichen Verschuldung, schon gar nicht im Bereich privater Investitionen oder Handel. Auch die Mitspracherechte in den internationalen Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, die längst nicht mehr den realen wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen entsprechen, bleiben in Sevilla außen vor.
Was ist von der Bundesregierung in Sevilla zu erwarten? Im Koalitionsvertrag steht unter anderem: »Wir setzen uns für die effektive Bewältigung von Staatsschuldenkrisen ein, bei der alle Gläubiger beteiligt werden. Wir unterstützen Länder des globalen Südens beim Aufbau ihrer Steuersysteme.« Ist das in der Regierungspraxis erkennbar?
Im Steuerbereich folgt dieser Ansatz den Vorgängerregierungen. Tatsächlich haben sie seit 2015 in den Aufbau von Steuerverwaltungen im Globalen Süden investiert. Das ist zu begrüßen. Das Problem ist, dass sie gleichzeitig auf globaler Ebene systemische Reformen entweder nur zurückhaltend unterstützt haben oder sogar verhindert haben. Die Bundesregierungen haben sich im Wesentlichen passiv darauf verlassen, dass aus verschiedenen Prozessen im Rahmen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Lösungen kommen. Diese Hoffnung hat sich mit Trumps Präsidentschaften faktisch zerschlagen. Die neue Bundesregierung ist zu kurz im Amt, um sie schon zu bewerten. Wir setzen darauf, dass sie den einen Weg einschlägt, den andere Länder wie Großbritannien und Belgien schon gegangen sind: Im Schuldenbereich nationale Gesetze zu erlassen, die es privaten Gläubigern verbieten, gegen Länder des Südens Vollstreckungsmöglichkeiten zu erwirken, statt sich an der Umschuldung zu beteiligen.[3] Dafür reicht ein Gesetz mit Mehrheit im Bundestag.
Wer kommt nach Sevilla?
Hochrangige Präsenz wäre zu wünschen. Auf alle Fälle die Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan, aber warum nicht auch Finanzminister Lars Klingbeil oder Kanzler Friedrich Merz? Wer Multilateralismus wichtig findet, der sollte sich vor Ort für starke globale Institutionen und starke Vereinte Nationen einsetzen. Wenn sich an der Finanzlage nicht dramatisch etwas verbessert, müssen bei den UN große Teile des Personals entlassen werden. Daran kann die Bundesregierung etwas ändern. Sie kann Finanzmittel bereitstellen, sie kann sich mit anderen Staaten darauf einigen, wie man die Finanzierung auch langfristig sichern kann. Und das erwarten wir von der Bundesregierung jetzt.