nd-aktuell.de / 27.06.2025 / Wissen

Vom Verlernen der Illusionen

Welche Rolle spielt die Psychoanalyse für das Verständnis aktueller Krisen, Kriege und gesellschaftlicher Konflikte?

Nora Kühnert
Wiege der Psychoanalyse: Rekonstruktion von Sigmund Freuds Behandlungszimmer für den Film »Freud«
Wiege der Psychoanalyse: Rekonstruktion von Sigmund Freuds Behandlungszimmer für den Film »Freud«

Im europäischen Sprachraum lesen wir von links nach rechts – das gilt für alle Schriften, mit denen wir täglich zu tun haben. So geht es idealerweise immer vorwärts: Wenn wir ein Buch lesen, wandert unser Blick Zeile für Zeile von links oben nach rechts unten. Unten rechts angekommen, schlagen wir auf die nächste Seite um – vielleicht der Versöhnung am Ende einer Geschichte entgegen? Bereits am Anfang hoffen wir, dass am Ende eine positive Auflösung oder eine neue Erkenntnis auf uns wartet. Doch denkt man genau darüber nach, wird klar, dass unser Blick beim Lesen doch nicht nur vorwärtsschweift. Manchmal müssen die Augen zurückspringen zu einer früheren Stelle im Text, um die Geschichte besser zu verstehen – der Rückschritt ist notwendig, um den Inhalt zu erfassen.

So lebensnah erklärt Kai Rugenstein in seinem Artikel »Zurück wohin?« die Regression, einen zentralen Begriff der Psychoanalyse, der den zeitweiligen Rückzug auf eine frühere Stufe der Entwicklung vor allem in Zeiten der Krise meint. Die Regression ist ein Konzept, mit dem sowohl psychische als auch gesellschaftliche Phänomene verstehbar werden – so zumindest eine These des im Psychosozial-Verlag erschienenen Bandes »Zwischen Angst und Hoffnung. Psychoanalyse in Zeiten gesellschaftlicher Krisen«.

Krisen, Angst und Rückzug

Die Herausgebenden Eckehard Pioch, Luisa von Hauenschild, Katarzyna Meinert, Isabel Mühlinghaus und Tilman Watzel sind erfahrene Psychoanalytiker*innen, die zudem als Lehrende an verschiedenen psychoanalytischen Instituten tätig sind. Laut ihnen verstärkt die Vielzahl gegenwärtiger Konflikte unbewusste Abwehrmechanismen. Sowohl individuell als auch auf einer kollektiven Ebene komme es zunehmend zu innerem Rückzug in Allmachtsfantasien, zu einer Suche nach Halt in Heilsversprechen sowie der Verleugnung einer Realität, die durch innere und äußere Beschränkungen geprägt ist und Ohnmacht erzeugt. Vermehrt gipfele diese Abwehr in einer Abwertung anderer und letztlich in Gewalt, zum Beispiel in Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ziel des Bandes ist es, diese psychischen Dynamiken sowohl als Ausdruck als auch als Grundlage verschiedenster Krisen zu diskutieren.

Eckehard Pioch zeigt in seinem Beitrag »›Rottet die Bestien aus!‹ versus ›Man müsste an so was wie Liebe glauben!‹«, wie menschliche Aggression sowohl persönliche Beziehungen belastet als auch gesellschaftliche Spaltungen vertieft. Am Beispiel von Knut Hamsuns Roman »Hunger« (1890) beschreibt er einen verarmten Schriftsteller, der sich in Größenwahn und Allmachtsvorstellungen flüchtet, um Not und Einsamkeit zu verdrängen. Diese Abwehr verstärkt seine Isolation und Verzweiflung: Statt um Hilfe zu bitten, irrt er hungernd, berauscht und obdachlos durch Kristiania (heute Oslo) und träumt von literarischem Ruhm.

Pioch verbindet diese literarische Figur mit Freuds Kulturkritik und betont: Die Verleugnung von Abhängigkeit ist eng mit Gewalt verknüpft. Freud verstand den Menschen als nicht von Natur aus friedlich und auf Zuneigung angewiesen, sondern betonte die menschliche Neigung zur Aggression. Mitmenschen würden nicht nur als mögliche Helfer und Partner, sondern am Grunde des Unbewussten als Ziel für Ausbeutung, Gewalt, Demütigung und Zerstörung gesehen. Pioch warnt, dass eine Verleugnung der eigenen Angewiesenheit und Destruktivität in einer kollektiven Zerstörungslust gipfeln kann, und verdeutlicht dies am Beispiel kolonialer Gewaltakte. Das Bild der indigenen Bevölkerung im Kolonialismus als »Bestien« spiegele die verdrängten eigenen Triebe wider – Sadismus, Hass und Machthunger – und verdecke zugleich die tatsächliche Abhängigkeit der Kolonisatoren von den Einheimischen, ohne deren Hilfe sie in der fremden Umgebung nicht überleben könnten.

Verführerische Realitätsflucht

Die Anfälligkeit für Verschwörungsnarrative beleuchtet Karin Johanna Zienert-Eilts in ihrem Beitrag »Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen …«. Sie hebt hervor, dass solche Narrative gezielt Realitätsverzerrungen und Lügen nutzen, um Ängste und Unsicherheiten zu verstärken, besonders in Krisenzeiten, und sieht die Grundlage der Anfälligkeit in frühen kindlichen Beziehungserfahrungen. So könne es dazu kommen, dass Betroffene in starren Überzeugungssystemen und Heilsversprechen eines allmächtigen Erlösers den Halt suchen, der ihnen einst fehlte. Exemplarisch beschreibt sie diese destruktive Dynamik anhand von Donald Trump und seinen Anhängern; sie betont aber, dass wir alle anfällig für diese Dynamik sind. So zeigen psychoanalytische Theorien, dass in uns allen frühe kindliche Erfahrungen des Verlusts und der Entsagung fortbestehen und dafür sorgen, dass wir zwischen paranoidem Misstrauen und verarbeitender Trauer hin- und herpendeln.

Neben düsteren Zeitdiagnosen zieht sich ein Hoffnungsmotiv wie ein roter Faden durch den Band.

Sally Weintrobe kritisiert die enge Verflechtung von profitorientierter Fossilindustrie und gesellschaftlicher Mitverantwortung: So würden Regierungen und Wirtschaftssysteme nach verschwenderischen Geschäftsmodellen handeln, die kaum Rücksicht auf kommende Generationen nehmen. In dieser Verschwendung liege die Gefahr eines Denkens, das die Realität der ökologischen Grenzen unseres Planeten systematisch im Modus fantasierter Allmacht verleugne. Letztlich reiche die Verdrängung bis in unser individuelles Seelenleben hinein und führe dort zu einem Drang nach grenzenlosen Möglichkeiten und endlosen inneren Ressourcen. Eine von Weintrobe durchgeführte Studie zeigt, wie sehr junge Menschen unter den psychischen Folgen leiden und dafür oft noch belächelt oder abgewertet werden.

Neben düsteren Zeitdiagnosen zieht sich ein Hoffnungsmotiv wie ein roter Faden durch den Band: So stellt Pioch am Ende seines Beitrags – wie auch Herbert Will und Jonathan Lear – die positive Rolle der Hoffnung heraus. Auch in destruktiven Zeiten sei Verbundenheit möglich, wenn die Abhängigkeit der Menschen voneinander anerkannt und nicht verdrängt wird. Im Beitrag von Cécile Loetz und Jakob Müller erscheint Hoffnung in der antiken Gestalt des Odysseus – ein Sinnbild des modernen Menschen, wie ihn Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« (1940) zeichnen: Nicht durch die Verleugnung der Realität, sondern durch List und Verstand weiß er sein Schicksal stets gegen alle Widrigkeiten zu seinem Vorteil zu wenden.

Letztlich deutet Pioch das Hoffnungsmotiv differenziert mit Freud und betont die Unsicherheit angesichts künftiger Krisenentwicklungen: »Wer kann den Erfolg und Ausgang voraussehen?« Doch immer wieder schimmert über den gesamten Band hinweg – mal deutlich, mal mehr am Rande – die Psychoanalyse selbst als Trägerin der Hoffnung durch, die Einfluss auf den Verlauf von Krisen nehmen und sich stärker in die Gesellschaft einbringen solle. Vielleicht liegt dies an der Nähe des Begriffs Hoffnung zu den Illusionen: Die Sprache im Band wird blumiger, sobald er die Hoffnung ins Spiel bringt; und der Psychoanalyse, im Sinne einer Institution und Praxis, wird ein Anstrich verliehen, der stellenweise pathetisch anmutet.

»Negatives Wachstum«

Gehen wir noch einmal zurück zum Anfang und damit zu Rugensteins Beitrag über die Regression: Er zeigt, dass ein »Zurück« in beklemmende Gefühle nicht nur ein Rückschritt sein muss, sondern auch andere Deutungen zulässt. Freud beschrieb Regression als ein »Wiederbeleben der Kindheit«, das nicht durch aktives Tun, sondern durch ein bewusstes Weglassen geschieht. Das psychoanalytische Denken setzt dabei auf Reduktion: analysieren, lösen und entwirren, statt mehr zu füllen. So entsteht ein Raum für einen besonderen Entwicklungsweg – ein »negatives Wachstum«, bei dem es nicht um neues Lernen geht, sondern ums Verlernen und Loslassen alter Sicherheiten und Illusionen. Dieser Verzicht eröffnet den Zugang zu neuen Möglichkeiten und führt nicht zurück in die Vergangenheit, sondern in die Offenheit des Lebens.

Was nach der Lektüre des Bandes offenbleibt, ist die Frage, inwieweit die Psychoanalyse selbst von gesellschaftlichen Krisen betroffen ist. Zwar entstand die Disziplin in Zeiten der Weltkriege, doch geriet sie dort auch unter Druck. Gerade ihre deutsche Geschichte ist durch die Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime, Spaltungen und Gewalt geprägt, wie Shmuel Erlich und Mira Erlich-Ginor in ihrem Beitrag »Zeitgemäßes über Antisemitismus« zeigen. Auch in Hinblick auf die Technik der »freien Assoziation« steht die Krisenresistenz der Psychoanalyse infrage. Beim freien Assoziieren soll der Patient möglichst ungefiltert Gedanken und Gefühle aussprechen. So können sich im Gespräch Muster zeigen, die einen verborgenen seelischen Konflikt offenlegen – ein Zugang zu frühen Erfahrungen, die nachgefühlt, gedeutet und verstanden werden sollen.

Doch was ist, wenn die krisenhafte gesellschaftliche Realität allzu gewaltvoll in die psychoanalytische Situation hineinbricht, weil beispielsweise sowohl Analytikerin als auch Patient schwer von den Folgen eines Krieges betroffen sind? Oder wenn die gesellschaftlichen Bedingungen in einem autoritären Regime kein »freies« Sprechen ermöglichen? Verdeutlicht man sich die Geschichte von Odysseus im Sinne der »Dialektik der Aufklärung«, so zeigt sich, dass sich das Individuum gerade über die Fantasie der eigenen Selbstbestimmung in bestehende Herrschaftsverhältnisse verstrickt. Anna Freud brachte diese Gefahr 1946 desillusioniert auf den Punkt: »Die Psychoanalyse kann nur dort gedeihen, wo die Freiheit des Gedankens herrscht.«

Eckehard Pioch, Luisa von Hauenschild, Katarzyna Meinert, Isabel Mühlinghaus, Tilman Watzel (Hg.): Zwischen Angst und Hoffnung. Psychoanalyse in Zeiten gesellschaftlicher Krisen. Psychosozial-Verlag, 261 S., br., 39,90 €.