nd-aktuell.de / 27.06.2025 / Politik

Ukraine forciert »Tribunal für Putin«

Menschenrechtler und Politik wollen Folter gegen Kriegsgefangene aufarbeiten und vor Gericht bringen

Bernhard Clasen, Kiew
Zurück in der Ukraine: Menschenrechtler berichten von Folter an Soldaten in russischer Gefangenschaft.
Zurück in der Ukraine: Menschenrechtler berichten von Folter an Soldaten in russischer Gefangenschaft.

»Zu Hause« betitelte Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Videobotschaft vom Donnerstagabend, in der er von einem weiteren Austausch von ukrainischen und russischen Kriegsgefangenen berichtet. Vor allem Soldaten unter 25 Jahren sowie Verletzte und Kranke kehrten aus russischer Haft in die Heimat zurück[1].

Der Austausch vom Donnerstag war bereits der siebte im Juni. Auch wenn beide Seiten keine Angaben zur Zahl der Freigelassenen machten, betonten sie, wie wichtig ihnen die Fortsetzung der Freilassungen sei. Das ukrainische Nachrichtenportal »New Voice« zitiert Verteidigungsminister Rustem Umerow mit den Worten, man warte bereits auf den nächsten Austausch. Und die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa schrieb auf Telegram, man arbeite jeden Tag ununterbrochen an weiteren Freilassungen. 

Bevor die Soldaten zu ihren Familien zurückkehren können, werden sie medizinisch und psychologisch betreut. Berichte über ihre Zeit in der Gefangenschaft liegen noch nicht vor. 

Menschenrechtler wollen »Tribunal für Putin«

Unterdessen berichteten drei ukrainische Menschenrechtsorganisationen – die Menschenrechtsgruppe Charkiw, die Ukrainische Helsinki Union und das Zentrum für bürgerliche Freiheiten – auf einer gemeinsamen Pressekonferenz in Kiew, was Haft und Kriegsgefangenschaft für Ukrainer*innen bedeutet. Gemeinsam haben die Menschenrechtsgruppen die Initiative »Tribunal für Putin«[2] am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eingereicht. Sie wollen erreichen, dass der Umgang mit den Inhaftierten in Russland als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wird.

Nach Angaben von Jewhen Sacharow, Direktor der Menschenrechtsgruppe Charkiw, sind allein seiner Organisation 990 Fälle von Folter, darunter auch an 24 Kindern, in russischer Haft und unter russischer Besatzung bekannt. 

Neun Männer sitzen in einer Zelle für zwei

Sacharow berichtet von unmenschlichen Haftbedingungen, überbelegten und kalten Zellen, in denen es an frischer Luft und Tageslicht fehle. Die Versorgung mit Essen, Trinken und Medikamenten sei sehr unzureichend. In Kupjansk bei Charkiw seien in einem für 140 Gefangene gebauten Gefängnis 500 Inhaftierte untergebracht gewesen. Oftmals wurden in Zellen, die für zwei Personen vorgesehen sind, neun Männer inhaftiert. 

Gefoltert werde mit Schlägen an Händen und Füßen, mit Gewehrkolben, Gummistöcken und Gürteln. Opfer berichteten von Elektroschocks und Scheinerschießungen. Viele hätten während der Folter das Bewusstsein verloren. 

In der Region Charkiw seien nach der Rückeroberung einiger Ortschaften 33 Folterstätten entdeckt worden, so Sacharow. Haben russische Truppen eine ukrainische Ortschaft eingenommen, seien gerade Männer, die zwischen 2014 und 2021 gekämpft hatten, Polizisten, Grenzschützer, Rettungskräfte, Staatsbedienstete, Lokalpolitiker, Aktivisten, Unternehmer, Journalisten und Priester besonders gefährdet, verhaftet und gefoltert zu werden, so Sacharow. 

»Unter den Bedingungen, unter denen das Völkerrecht in seiner früheren Form praktisch nicht mehr funktioniert, ist es zwingend erforderlich, ein neues System von Normen und Institutionen zu entwickeln.«

Leonid Newslin Ehemaliger russischer Politiker

Sondertribunal ein »Schritt von großer Wichtigkeit«

Am Donnerstag unterzeichneten Präsident Selenskyj und Alain Berset, Generalsekretär des Europarats, ein Abkommen über die Einrichtung eines Sondertribunals, das Beweise von Verbrechen der russischen Führung im Krieg gegen die Ukraine sammeln soll. Das Richtergremium soll Vertreter der russischen Führung zur Verantwortung ziehen. »Alle Kriegsverbrecher müssen wissen, dass Gerechtigkeit geübt wird«, zitiert der »Spiegel« Selenskyj. Man stehe mit der Einrichtung des Tribunals vor einer »entscheidenden Etappe«, so Berset laut »Spiegel«. 

Auch für Leonid Newslin ist die Entscheidung, ein Sondertribunal einzurichten, ein »Schritt von großer Wichtigkeit[3]«. »Unter den Bedingungen, unter denen das Völkerrecht in seiner früheren Form praktisch nicht mehr funktioniert, ist es zwingend erforderlich, ein neues System von Normen und Institutionen zu entwickeln. Ohne dieses System werden sich die Kriegsverbrechen nur vervielfachen«, so Newslin auf Facebook. Newslin, ein Weggefährte des russischen oppositionellen Oligarchen Michail Chodorkowski, hatte 1996 im Wahlkampfteam des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin mitgearbeitet. 

Kritiker: Tribunal wird den Krieg nicht beenden

Kein gutes Haar an dieser Vereinbarung lässt indessen der in Odessa lebende Blogger und Verleger Leonid Schtekel. Er glaubt nicht, dass diese Vereinbarung den Frieden näher bringt. Zwar klinge die Forderung nach einem Sondertribunal für Putin beeindruckend. Aber der Nutzen sei »weniger als null«. Selenskyj habe keinen Plan, wie sich der Krieg beenden ließe, vermutet Schtekel auf Facebook.

Unterdessen werden an weitere Gefangenenaustauschaktionen neue Hoffnungen geknüpft. »Die Ukraine plant, nach Abschluss der Gespräche mit Russland über humanitäre Fragen ein Treffen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Diktator Wladimir Putin zu erörtern«, zitiert das Nachrichtenportal RBK Verteidigungsminister Umerow. Geht es um Verhandlungen mit Russland, ist in der Ukraine kaum jemand so gut informiert wie der Verteidigungsminister, der zuletzt die ukrainische Delegation bei den Gesprächen in Istanbul leitete.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191696.ukraine-krieg-ukraine-es-geht-gerade-nicht-um-frieden.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171830.internationaler-gerichtshof-symbolische-anklage-gegen-wladimir-putin.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174460.standpunkt-ermittlungen-gegen-russland-lex-putin.html