nd-aktuell.de / 02.07.2025 / Wissen

Pandemie als Syndemie

Erste Erkenntnisse zum Zusammenhang von Corona-Geschehen und sozialer Ungleichheit in Deutschland

Kurt Stenger
Mit mobilen Impfstationen hat man während der Coronazeit gute Erfahrungen gemacht.
Mit mobilen Impfstationen hat man während der Coronazeit gute Erfahrungen gemacht.

Als die Covid-19-Pandemie ihren Lauf nahm, war die Rede davon, dass das Virus der große Gleichmacher sei und nicht zwischen Arm und Reich unterscheide. Dass dem mitnichten so war, wurde aber relativ schnell deutlich. Zumindest in den USA und Großbritannien, wo in Studien frühzeitig belegt wurde, dass es ein heftigeres Infektionsgeschehen unter Armen, bestimmten ethnischen Minderheiten[1] und in Gegenden mit schlechterer Gesundheitsversorgung gab. Das traf zudem Gebiete, in denen Gegner von Maskentragen oder Impfungen politisch dominierten. Die Rede war von einer »Syndemie«, dem Zusammenfallen von Krankheiten mit politischen und sozioökonomischen Verwerfungen. [2]

In Deutschland gab es hingegen keine systematischen Untersuchungen dazu – aufgrund des Datenmangels durch strenge Datenschutzregelungen und der politischen Befürchtung, die Ergebnisse könnten rassistische oder andere Vorurteile schüren. Gut drei Jahre nach dem Ende der Pandemie stößt nun ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Projekt mit dem kryptischen Kürzel INHECOV in diese Lücke. Die Ergebnisse nach fast vier Jahren Arbeit wurden aber nicht in einer Fachzeitschrift nach unabhängiger Überprüfung veröffentlicht, sondern im »Epidemiologischen Bulletin« des federführenden Robert-Koch-Instituts (RKI).

In der Studie mit dem Titel »Sozioökonomische Ungleichheit in der Covid-19-Pandemie« werteten zehn Forscher aus verschiedenen Fachrichtungen die Meldungen laborbestätigter Corona-Fälle im Zeitraum 2020 bis 2023 aus. Da diese keinerlei Informationen zur sozialen Stratifizierung enthielten, brach man die Zahlen auf die Ebene der 401 Landkreise und kreisfreien Städte herunter und verknüpfte sie mit dem »German Index of Socioeconomic Deprivation« – dieser misst das Ausmaß sozioökonomischer Benachteiligung der Bevölkerung nach den Kriterien Bildung, Beruf und Einkommen. Eine höhere Deprivation findet sich laut dem Index in Teilregionen der neuen Bundesländer, aber auch im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

Die Sterblichkeit in Kreisen mit hoher Benachteiligung war 1,5-mal so hoch.

Zentrales Ergebnis der INHECOV-Studie: »Regionen mit mehr Menschen mit niedriger sozioökonomischer Position waren assoziiert mit häufigeren Sars-CoV-2-Infektionen und erhöhten Todesfallzahlen.« Zwar gab es zu Beginn der ersten Pandemiewelle (März und April 2020) vermutlich aufgrund privater und beruflicher Reisen höhere Infektionszahlen in bessergestellten Regionen. Im Pandemieverlauf aber verlagerte sich das Infektionsgeschehen zunächst in Süddeutschland und ab der zweiten Welle (ab Dezember 2020) auch deutschlandweit in Regionen mit sozioökonomisch benachteiligter Bevölkerung. Bereits damals war die Sterblichkeit in Kreisen mit hoher Deprivation 1,5-mal so hoch wie in Kreisen mit bessergestellter Bevölkerung, wobei Unterschiede in der Bevölkerungsdichte, Alters- und Siedlungsstruktur herausgerechnet wurden. In der dritten und vierten Welle blieb das so.

Ein weiterer Befund: Landkreise mit vielen Beschäftigten in der Industrie wiesen ab der zweiten Welle höhere Inzidenzen auf als Kreise mit vielen Beschäftigten in Dienstleistungsbereichen. Dies wird von den Autoren auf die geringere Möglichkeit zum Homeoffice zurückgeführt.[3]

Für die Arbeitswelt vertieft wird der Befund durch Zahlen eines RKI-Monitorings, das auf das Sozio-oekonomische Panel[4], eine Langzeitbefragung unter Bundesbürgern, zurückgreift. Demnach hatten Personen mit niedriger formaler Bildung 2021/22 ein um 40 Prozent erhöhtes Risiko für eine Corona-Infektion gegenüber Teilnehmenden mit hoher Bildung. In den ersten beiden Pandemiewellen hatten Menschen in Gesundheitsberufen ein ungefähr doppelt so hohes Infektionsrisiko wie andere Beschäftigte. Das änderte sich später, dann aber hatten insbesondere weibliche Beschäftigte in anderen personenbezogenen Dienstleistungsberufen wie Reinigung und Logistik ein erhöhtes Risiko für einen Krankenhausaufenthalt oder zu versterben. Die Autoren führen das auf sich ändernde Infektionsschutzmaßnahmen und die Verfügbarkeit von Atemschutzmasken und Schutzimpfungen im Verlauf der Pandemie zurück, wovon aber offenbar nicht alle gleich profitierten.

Bislang wurden in Deutschland allein das biologische Alter und bestimmte Vorerkrankungen als Faktoren der Infektionsdynamik, Krankheitslast und Mortalität angesehen. Wie die Studie nun belegt, gehört die soziale Heterogenität auch dazu. Besonders Menschen mit geringem Einkommen seien generell von ungleichen Gesundheitschancen und Gesundheitsproblemen betroffen, sagt die INHECOV-Mitarbeiterin Dagmar Starke. »Eine Problematik, die durch die Sars-CoV-2-Pandemie noch deutlicher sichtbar wurde«, so die Diplompädagogin und Leiterin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf. Um das zu ändern, müssten gesundheitliche Ungleichheiten verringert werden, und alle Menschen sollten aktiv an der Gesellschaft teilhaben können – sei es hinsichtlich Bildung, Arbeit, Wohnen oder politischer Partizipation.

In der Studie wird als konkrete Schlussfolgerung eine sozial gerechte Pandemieplanung gefordert. Eine gesetzlich festgeschriebene Verpflichtung zur Berücksichtigung gesundheitlicher Ungleichheiten in der Bevölkerung sei zentral für die Verbindlichkeit entsprechender Maßnahmen. Gefordert werden ferner geeignete Daten, die ein Monitoring sozialer Ungleichheit ermöglichen, aber auch mehr Homeoffice und besserer Arbeitsschutz. Schließlich sollte es mobile Präventionsangebote geben, begleitet von mehrsprachiger Beratung und interkulturellen Beratern, die von marginalisierten Bevölkerungsgruppen gut akzeptiert werden.

Eine bessere Pandemiebekämpfung wird aber nur dann funktionieren, wenn man genau weiß, wie soziale Ungleichheit und Inzidenz zusammenhängen. Die Autoren räumen ein, dass »zu den konkreten Wirkmechanismen bisher deutlich weniger Erkenntnisse vorliegen«. Und sie können auch nur Vermutungen anstellen: etwa, dass Personen mit niedriger formaler Bildung und geringem Einkommen seltener den Empfehlungen bzw. Vorgaben zur Kontaktreduktion nachkommen konnten. Oder dass die geringeren Impfquoten bei ihnen durch strukturelle Barrieren, unzureichende adressatenspezifische Kommunikation sowie sinkendes Vertrauen in Politik und Institutionen zustande gekommen seien.

Trotz offenbleibender Fragen hat die Studie eine wichtige Botschaft: Soziale Ungleichheit erhöht die Infektionsrisiken, natürlich nicht nur in der Pandemie. Und wenn die nächste Pandemie kommt, muss auch die Syndemie bekämpft werden.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166754.corona-und-rassismus-ungleichheiten-in-der-gesundheitsversorgung.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173130.corona-pandemie-in-den-usa-nicht-endende-syndemie.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171873.lockdown-corona-beim-homeoffice-laesst-sich-die-zeit-nicht-zurueckdrehen.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191560.arbeitszeitdebatte-weniger-arbeit-mehr-wohlstand.html