Laura Kaufmann glaubte, die Zeit sei reif, viele andere nicht. Mit einem kleinen Team wollte sie ein gedrucktes Magazin entwickeln, in dem es ausschließlich um den Fußball der Frauen[1] geht. Es wäre eines der ersten Magazine dieser Art in Europa. Wenn nicht jetzt, wann dann, fragte sich Kaufmann mit Blick auf die Europameisterschaft der Frauen[2], die am Mittwoch in der Schweiz angepfiffen wurde. Eines der größten Sportereignisse in der Geschichte des Landes begann in Basel mit einer 1:2-Niederlage der »Nati« gegen die Norwegerinnen.
»Wir haben bei vielen Unternehmen um Unterstützung geworben«, erzählt Kaufmann. »Die Rücklaufquote war unterirdisch schlecht.« Sie sitzt in einem kleinen Raum in der Hochschule der Künste in Zürich, wo sie einst Design studiert hat, spricht mit einem Lächeln, geduldig. Mitunter will der Inhalt nicht recht zu ihrer ruhigen Tonlage passen: »Die Marketingabteilungen dieser Unternehmen, die meist von Männern geprägt[3] werden, sind offenbar noch nicht so weit wie die Schweizer Gesellschaft.«
Kaufmann kennt das Gefühl, unterschätzt zu werden. Sie hat als Bildredakteurin und Fotografin bei einer Schweizer Tageszeitung gearbeitet, später fotografierte sie die Fußballerinnen des FC Zürich. Die männlichen Kollegen ließen sie machen, wohl auch, weil sich ihr Interesse am Fußball der Frauen in der Schweiz[4] in Grenzen hielt. Sie baute Vertrauen zu den Spielerinnen auf, porträtierte sie als Leistungssportlerinnen, nicht als Objekte für ein männliches Publikum. In sozialen Medien waren ihre Blogs und Fotostrecken besonders beliebt. Ihre Kollegen in den Redaktionen waren überrascht, sie selbst nicht.
Also musste es doch auch klappen mit diesem Magazin, glaubte sie. Es folgte eine Kampagne für Crowdfunding. Und schon nach wenigen Wochen war das Ziel erreicht: mehr als 80 000 Franken, rund 85 000 Euro, zusammengetragen von fast 900 Spenderinnen und Spendern. Und nun, kurz vor Beginn der EM[5], ist das Magazin mit einer ersten Auflage von 10 000 Exemplaren erschienen. »Frau Müller« heißt es. Klingt so normal und trocken, dass es fast schon provokativ wirkt. »Wir wollen positiv und konstruktiv sein«, erklärt Kaufmann, »und auch politisch.«
Es scheint in der Schweiz gerade eine gute Zeit zu sein, um kulturelle Grenzen[6] auszuloten. In den großen Städten haben Verwaltungen, Vereine und Unternehmen rund um die EM besondere Programme aufgelegt. Häufig geht es dabei um Fragen der Gleichstellung[7]. In einer beliebten Fußballkneipe in Basel etwa diskutieren Politikerinnen mit Fußballerinnen über Lohnunterschiede[8]. In Zürich beschreiben Künstlerinnen in einem Rundgang Darstellungen von Frauen im öffentlichen Raum. Und auch in Bern finden Theaterstücke, Lesungen und Workshops für Kinder statt.
Der Fußball als Anstoßgeber für gesellschaftliche Debatten? In der Schweiz war das lange kaum denkbar – und das hat vor allem historische Gründe. Die Ursachen kann man gerade im Museum des FC Zürich erkunden, bei einem der wichtigsten Fußballklubs der Schweiz. Zwischen alten Pokalen, Wimpeln und Zeittafeln vermittelt eine Fotoausstellung die Geschichte des Schweizer Nationalteams der Frauen.
Gleich das erste Bild auf der Zeitachse aus dem Sommer 1970 ist voller Symbolik. Es zeigt die »Pionierinnen«, die Schweizer Spielerinnen vor ihrem ersten Länderspiel in Schaffhausen gegen Österreich. Sie tragen verwaschene und übergroße Trikots in Gelb und Orange, nicht in den Nationalfarben Rot und Weiß. Es waren Trikots, die männliche Jugendspieler nicht mehr gebraucht hatten. Und doch wirken etliche Spielerinnen zuversichtlich und stolz.
Es war eine Zeit, in der traditionelle Strukturen allmählich aufbrachen, auch geprägt durch die 68er-Bewegung. In etlichen Ländern Westeuropas vernetzten sich Frauen und forderten Gleichberechtigung ein. Auch im Fußball, wo ein Spielbetrieb der Frauen lange von Verbänden verboten wurde. Nun schlossen sich Spielerinnen zu Nationalteams zusammen und bestritten bald ihre ersten Länderspiele. In Deutschland 1982, in Italien 1986 und in Österreich 1990. Die Schweizerinnen waren mit ihrer Premiere 1970 früher dran, obwohl sie in manchen Fragen Bürgerinnen zweiter Klasse waren. Das Wahlrecht für Frauen wurde in der Schweiz erst 1971 angenommen. Ein Jahr später wurden auch im Sportunterricht Mädchen und Frauen gleichgestellt.
Die weitere Entwicklung verlief schleppend, weiß Historikerin Marianne Meier: »Die Verbände duldeten den Frauenfußball nicht, weil sie ihn zeitgemäß fanden, sondern weil sie ihn kontrollieren wollten.« In den Medien überwog eher Skepsis, wie beim Magazin »Tip«: »Die Frau soll denjenigen Sport betreiben, der ihr Spass bereitet. Wenn es denn aber Fussball ist, so soll sie ihn am besten vor der Öffentlichkeit fernhalten, damit sie sich nicht der Lächerlichkeit preisgibt.« Diese Geschichte in der Schweiz kann kaum jemand so gut nachzeichnen wie Marianne Meier. Im Jahr 2000 stieß sie auf eine Zeitungsanzeige, in der die Nationalspielerinnen der frühen 70er Jahre für ein Treffen warben. Sie meldete sich, nahm an der Runde teil, verteilte Fragebögen für ihre Forschung. »Nur eine von 16 Spielerinnen damals betrachtete den Fußball 1970 als politischen Akt«, sagt Meier. »Einige wollten sich ausdrücklich nicht als Feministinnen verstanden wissen.« Sie waren es dennoch – weil sie sich etwas herausnahmen, was Männer schon seit 100 Jahren durften: grätschen, Flanken schlagen, beim Torjubel die Fäuste ballen.
Über diese Generation hat Meier gerade mit der Geschlechterforscherin Monika Hofmann ein Buch geschrieben und einen Podcast produziert: »Das Recht zu kicken«. Doch dieses Recht war auch für die nachfolgenden Generationen keineswegs selbstverständlich, wie ein Besuch im Wankdorf-Stadion von Bern zeigt, der Heimstätte des BSC Young Boys. In den Katakomben kommt Franziska Schild schnellen Schrittes aus ihrem Büro und nimmt im Konferenzsaal Platz. Sie hat um die Jahrtausendwende vier Länderspiele für die Schweiz bestritten und verantwortet nun den Fußball der Frauen bei den Young Boys.
Schild ist in einem Vorort von Bern aufgewachsen. Sie war eines der wenigen Mädchen in der Schule, die sich für Fußball interessierten, doch nach Vorbildern musste sie suchen. 1994 feierte der Schweizerische Fußballverband seinen 100. Geburtstag – in der Festschrift wurde das Nationalteam der Frauen nicht mal erwähnt. »Auch heute sind die veralteten Rollenbilder in der Schweiz noch stark verankert«, sagt Schild. Das Land ist zwar wohlhabend und hat pro Kopf das dritthöchste Bruttoinlandsprodukt der Welt. Doch in der Rangliste des Weltwirtschaftsforums zur Geschlechtergerechtigkeit belegt die Schweiz nur Platz 20.
Als einer der letzten Nationalverbände Europas hat der Schweizerische Fußballverband erst 2024 Frauen in seinen Vorstand aufgenommen. Insgesamt liegt der Anteil an Funktionärinnen im Schweizer Fußball bei 13 Prozent, der Anteil der Trainerinnen bei acht und der von Schiedsrichterinnen bei drei Prozent. Schild hatte als Fußball-Funktionärin schon unterschiedliche Jobs; manchmal kam es vor, dass sie am Telefon für die Sekretärin gehalten wurde. Sie findet es gut, dass die ehemalige Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd den Sport in die Pflicht nahm: Künftig sollen in Verbänden mindestens 40 Prozent der Führungskräfte weiblich sein.
Schild ist sich jedoch bewusst, dass die Fußballerinnen bei ihrem aktuellen Klub in Bern nicht so bald den gleichen Stellenwert erhalten wie die Fußballer. Aber sie kann zumindest die Strukturen zusammenführen. »Wir wollen kein Eigenleben führen«, erklärt sie. »Alle Abteilungen im Verein, ob Marketing oder Medien, sollen den Frauen- und Männerfußball gleichermaßen im Blick haben.« Bei Sponsorenevents oder Autogrammstunden sollen Spieler und die Spielerinnen gemeinsam auftreten.
Schon seit zwei Jahren bestreiten die Fußballerinnen des BSC Young Boys ihre Heimspiele in der Super League im großen Wankdorf-Stadion, manchmal vor mehr als 10 000 Zuschauern. Es ist eine Atmosphäre, die sich unterscheidet von der mitunter aggressiven Stimmung im Fußball der Männer. Viele Familien sitzen auf den Tribünen, ebenso etliche Schulklassen und Jugendgruppen. Schild spricht von einem »Eventpublikum«, aber für sie hat dieser Begriff keinen negativen Klang.
Während der Europameisterschaft finden vier der insgesamt 31 Partien in Bern statt, drei Gruppenspiele und ein Viertelfinale. Rund um das Wankdorf-Stadion sind Wegweiser und Sponsorenlogos angebracht, in der Innenstadt werben Restaurants und Kneipen für Public Viewing. »Ich bin mir sicher, dass nach der Euro mehr Mädchen Fußball spielen wollen«, sagt Schild und hofft langfristig auch auf mehr Schiedsrichterinnen oder Stadionsprecherinnen, ebenso wie auf bessere Rasenplätze und Umkleidekabinen für Mädchen.
Die Spielerinnen des BSC Young Boys sind in der Schweiz gerade Meisterinnen geworden. Doch ihren Lebensunterhalt können nur wenige von ihnen mit dem Fußball bestreiten. Eine Berner Spielerin arbeitet als Köchin, eine andere als Schreinerin, wiederum andere studieren nebenbei. Laut einer Umfrage von 2022 erhielten Fußballerinnen in der Schweiz ein durchschnittliches Monatsgehalt von knapp 400 Euro. Der offizielle Slogan der Europameisterschaft in der Schweiz lautet: »Together we rise« – gemeinsam steigen wir auf. Bis zur Spitze ist es ein weiter Weg.