Am vergangenen Dienstag ließ die türkische Staatsanwaltschaft 126 Mitarbeitende und Ehemalige der Stadtverwaltung Izmir verhaften. Izmir ist die drittgrößte Stadt der Türkei und gilt als Hochburg der Oppositionspartei CHP. Unter den Inhaftierten war neben dem ehemaligen Bürgermeister Tunç Soyer (Amtszeit 2019–2024) auch der Vorsitzende der örtlichen CHP Şenol Aslanoğlu. Die Vorwürfe lauten auf Korruption und finanzielle Unstimmigkeit bei der Vergabe von städtischen Aufträgen. Dass diese Verhaftungswelle dem Verfahren gegen den Istanbuler Bürgermeister und CHP-Politiker Ekrem İmamoğlu und seinen Kolleg*innen stark ähnelt, ist ebenso wenig ein Zufall wie der Zeitpunkt dieser neuerlichen Razzien.
Am 19. März dieses Jahres wurden İmamoğlu und 260 weitere Personen verhaftet[1], nachdem ihm bereits einen Tag zuvor sein Universitätsabschluss aberkannt worden war. Dem beliebten Istanbuler Bürgermeister fehlen dadurch die formellen Voraussetzungen, sich um das Amt des Präsidenten der Türkischen Republik zu bewerben. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass es sich um einen gezielten Schlag gegen den möglichen Herausforderer von Recep Tayyip Erdoğan handelte. Die CHP hat İmamoğlu trotz Untersuchungshaft Ende März zu ihrem Spitzenkandidaten ernannt – für die offiziell erst 2028 stattfindende Präsidentschaftswahl.
Seit ihrem überraschend deutlichen Sieg bei den Lokalwahlen 2024 fordert die größte Oppositionspartei CHP die AKP-Regierung zu Neuwahlen auf. Neben den spontanen Protesten, vor allem der Studierenden,[2] hält die CHP seit İmamoğlus Verhaftung wöchentliche Kundgebungen in verschiedenen Regionen des Landes und mehreren Stadtteilen von Istanbul ab, auf denen sie seine Freilassung fordert. Auch eine Unterschriftenkampagne für Neuwahlen hat sie gestartet, an der sich laut eigenen Angaben bereits 20 Millionen Menschen beteiligt haben sollen. Der vergangene Dienstag markierte den 100. Tag nach İmamoğlus Verhaftung. Die CHP rief erneut zum Protest vor dem Istanbuler Rathaus auf, an dem sich Zehntausende beteiligten.
»Es soll eine Zukunft geschaffen werden, in der das Recht zwar existiert, aber der Macht dient.«
Ahmet Murat Aytaç Politikwissenschaftler
Dass die CHP in mehreren Wellen juristisch angegriffen wird und ausgerechnet am Dienstag führende Politiker in der CHP-Hochburg Izmir verhaftet wurden, sei Teil einer größeren Strategie der Regierung, meint der Politikwissenschafter Ahmet Murat Aytaç. Im Interview mit der linken Tageszeitung »Evrensel« sagte er: »Das Gesamtbild können wir nicht nur als einen dem Wesen der Regierung innewohnenden politischen Repressionsprozess bewerten. Es handelt sich zugleich um eine politische Strategie. Die Regierung handelt also nicht nur deshalb so, weil sie in der Wirtschaftspolitik in einer Sackgasse steckt oder weil sie die Opposition schwächen und einschüchtern will. Es soll eine Zukunft geschaffen werden, in der die Opposition zwar existiert, aber nicht an die Macht kommen kann; in der Institutionen zwar bestehen, aber ausgehöhlt sind; in der das Recht zwar existiert, aber der Macht dient.«
Derweil meldete sich der ehemalige Bürgermeister von Izmir, Tunç Soyer, über seine Anwältin zu Wort. An seine Unterstützer*innen gewandt, sagte er: »Seid euch sicher: Ich habe ein reines Gewissen und gehe erhobenen Hauptes.«
Doch die Verhaftung von CHP-Politikern ist nicht das einzige Problem, das die Partei derzeit unter Druck setzt. Auch das laufende Verfahren gegen den letzten Parteikongress schadet dem Zusammenhalt der Partei. Im Prozess wird dem aktuellen Parteivorsitzenden Özgür Özel, der dem progressiveren Flügel zuzuordnen ist, vorgeworfen, die Wahl zum Vorsitzenden unrechtmäßig gewonnen zu haben. Demnach müsste der ehemalige Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu das Amt besetzen. Beobachter*innen sehen darin ein Kalkül der Regierung, die mit Kılıçdaroğlu einen für sie ungefährlichen Oppositionspolitiker zurück ins Amt hieven würde. Der Prozessauftakt wurde für den vergangenen Montag erwartet, dann jedoch auf den 8. September verschoben. Dies kommentierte Özel auf der Plattform »X« mit den Worten: »Die heutige Verhandlung war nicht ergebnisorientiert, sondern ist eine politische Operation, die darauf abzielt, dass über unsere Partei debattiert, dass unser Weg an die Regierung abgeschnitten und dass unser Kampfgeist gebrochen wird.«
Am Mittwoch fuhr Özel außerdem nach Izmir, wo die CHP eine Protestkundgebung gegen die Verhaftungen organisiert hatte. Özel wehrte sich zunächst gegen die Gerüchte, er würde Soyer aufgrund innerparteilicher Differenzen die Unterstützung versagen: »Bei uns gibt es mal Wettstreit, mal gibt es auch Diskussionen – aber das Band der Brüderlichkeit wird niemals beschädigt.« Statt solch aufwändiger Prozesse solle die Regierung besser den Mindestlohn erhöhen. Der CHP-Parteivorsitzende verdient sich in diesem Verteidigungskampf zunehmend Respekt, auch im linken Lager außerhalb seiner Partei. Doch ob er die eigene Partei zusammenhalten und mit rein symbolischen Protesten die Angriffe auf die Opposition dauerhaft abwehren kann, ist zweifelhaft.