Die schlimmste Zeit war im geschlossenen Lager in Polen.» Kiran* sitzt etwas nervös im Gemeinschaftsgarten Niemandsland bei der Kapelle der Versöhnung im Berliner Ortsteil Mitte. Bis vor Kurzem noch lebte sie als Geflüchtete im Dublin-Zentrum in Eisenhüttenstadt[1], durch ein vorübergehendes Kirchenasyl konnte sie dort vorerst herauskommen.
Kiran erzählt von ihrer Flucht nach Deutschland: sieben Monate Belarus, davon sechs Tage lang im Wald unterwegs, dann neun Monate in Polen, davon vier Monate in einer gefängnisartigen Einrichtung, bevor Kiran es trotz eines Pushbacks in Frankfurt (Oder)[2] schließlich im Januar 2025 nach Deutschland schaffte. «Ich habe in Polen 20 Euro im Monat zum Leben bekommen und niemand wollte mir einen Job geben», sagt Kiran. Weil sie so nicht genug zum Leben hatte, ist sie nach Deutschland gekommen.
Weil Kiran bereits in Polen als Asylsuchende[3] registriert wurde, wollen die deutschen Asylbehörden sie dorthin abschieben, damit gemäß Dublin-Verordnung ihr Asylverfahren dort bearbeitet werden kann. Doch Kiran fürchtet um ihr Leben, sollte sie zurück nach Polen müssen. «Wir durften keine Handys haben, wir durften nicht nach draußen, überall waren Stacheldraht und Grenzwächter», sagt sie.
Eine Stunde am Tag habe es in der geschlossenen Asyleinrichtung eine Art «Freigang» gegeben, aber nicht tatsächlich draußen, sondern in einem sehr kleinen Hof. «Ich habe zweimal versucht, Suizid zu begehen», sagt Kiran. Das Asylverfahren in Polen[4] durchlaufen zu müssen, auf die Gefahr hin, erneut in einem solchen Asylgefängnis eingesperrt zu werden, gefährdet Kirans Leben. Deshalb kämpft Kiran darum, dass ihr Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird.
Genauso geht es Muhammad*. Der 22-Jährige hat eine Flucht aus dem Sudan[5] hinter sich gebracht und erzählt im Kleingarten Niemandsland von seinen Erfahrungen. Er musste Bürgerkrieg und Unterdrückung erleben. «Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben.» Er habe viele Nachbar*innen und Familienmitglieder verloren. «Ich war körperlich und mental verletzt. Ich musste von diesem Ort fliehen.»
Auch Muhammad reiste über Polen nach Deutschland ein. Er verbrachte drei Tage im Zelt in Braunschweig, kam dann nach Eisenhüttenstadt, wurde von dort nach Frankfurt (Oder) geschickt und dann zurück nach Eisenhüttenstadt – ins Dublin-Zentrum. Bis zu seiner Abschiebung hätte er dort bleiben sollen. «Sie haben alle finanzielle Unterstützung abgeschnitten», sagt Muhammad.
Er erzählt, dass er das Stadtgebiet von Eisenhüttenstadt gar nicht verlassen durfte, das Dublin-Zentrum nicht zwischen 22 Uhr und 6 Uhr. Er nennt das «Hausarrest». Dazu liegt «nd» ein Dokument vor, ausgestellt von der zentralen Ausländerbehörde, das besagt, Muhammad solle sich ab Ausstellungsdatum zehn Werktage lang zwischen 22 und 6 Uhr in der Einrichtung aufhalten. Sollte er nicht angetroffen werden, drohe ihm Abschiebungshaft. Auch zum Aufenthalt innerhalb von Eisenhüttenstadt und zur Einstellung der Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz liegen «nd» entsprechende Schreiben vor.
Muhammad vermutet, durch die Maßnahmen habe man ihn dazu bringen wollen, von selbst nach Polen zurückzugehen. «Was ich im Lager erlebt habe, hat mir gezeigt, dass ich hier nicht gewollt bin.» Doch auch Muhammad will sich den deutschen Behörden nicht beugen und konnte durch das Kirchenasyl vorübergehend aus dem Abschiebezentrum in Eisenhüttenstadt herauskommen. «Jetzt bin ich hier, um gegen die Abschiebung zu kämpfen», sagt er.
Das Brandenburger Innenministerium erklärt auf Anfrage von «nd», dass die Geflüchteten solche Auflagen sowie die Einstellung der Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz nur bekommen, wenn sie «vollziehbar ausreisepflichtig» sind. Das trifft allerdings auf alle im Dublin-Zentrum untergebrachten Menschen zu. Denn die Einrichtung besteht, um Menschen, die auf ihrer Flucht bereits in Polen einen Asylantrag gestellt haben, schnellstmöglich dorthin zurück abzuschieben. Geschieht das nicht innerhalb von sechs Monaten, ist Deutschland für das Asylverfahren verantwortlich. Genau das wünschen sich die Geflüchteten, die bei einer Abschiebung nach Polen um ihr Leben fürchten.
Muhammad und Kiran berichten, dass sie im Dublin-Zentrum nicht einmal ausreichend Essen bekommen hätten. «Jeden Abend haben wir nur ein Brötchen mit einer Scheibe Käse und einer Scheibe Gurke bekommen», erzählt Kiran. Auch mittags und morgens seien die Portionen klein gewesen. «Ich habe in Eisenhüttenstadt fünf Kilo abgenommen», sagt Muhammad. Denn ohne Geld können sich die Geflüchteten auch nicht anderswo Essen besorgen. Auch Kochen sei nicht möglich gewesen.
Das Brandenburger Innenministerium kann auf Anfrage von «nd» keine konkreten Auskünfte über den «Speiseplan» im Dublin-Zentrum machen, denn er wechsle täglich. Dass die Portionen zu klein seien, stimme aber nicht, sagt Andreas Carl, stellvertretender Ministeriumssprecher. «Grundsätzlich kann jeder Bewohner so lange Essen im Wege eines Nachschlags holen, bis er oder sie satt ist.» Es sei darüber hinaus aus «hygienischen und organisatorischen Gründen nicht vorgesehen, dass Bewohner selbst kochen».
Im Dublin-Zentrum sind nach Angaben des Innenminsteriums derzeit 20 Menschen untergebracht, die nach Polen abgeschoben werden sollen. Ausgelegt ist es auf bis zu 250 Menschen. Dass dort viel weniger wohnen, liege auch an der von Gerichten bereits als illegal bewerteten Praxis, Geflüchtete schon an der deutsch-polnischen Grenze «zurückzuweisen», sagte kürzlich Brandenburgs Innenminister René Wilke (parteilos, für SPD). Von der Weiterentwicklung der Grenzkontrollen hänge ab, inwiefern unter anderem das Dublin-Zentrum in Zukunft benötigt werde. Die Abschiebeeinrichtung wurde von seiner Vorgängerin Katrin Lange (SPD) eröffnet, die sagte, es gebe dort nur «Bett, Brot und Seife».
In einem offenen Brief forderte Anfang Juni eine Gruppe von Geflüchteten aus Eisenhüttenstadt die Abschaffung des Dublin-Zentrums. In der Einrichtung hätten die Geflüchteten keinerlei Privatsphäre: Zimmer könnten nicht abgeschlossen werden, Sicherheitskräfte und Sozialarbeiter*innen würden täglich Zimmer und Schränke durchsuchen und nachts kämen Polizist*innen unangekündigt in die Zimmer. Auch Muhammad spricht von den Polizeibesuchen: «Sie kommen ins Zimmer, ohne wenigstens vorher anzuklopfen.»
Das Innenministerium bestreitet tägliche Kontrollen der Zimmer. Zur Polizeipräsenz heißt es: «Es finden keine regelmäßigen unangemeldeten Polizeibesuche in der Einrichtung statt.» Die Bewohner*innen des Dublin-Zentrums seien allerdings angewiesen, sich «zwischen Montag und Freitag von 22 bis 5 Uhr für Rückführungsmaßnahmen bereitzuhalten.»
«Was ich im Lager erlebt habe, hat mir gezeigt, dass ich hier nicht gewollt bin.»
Muhammad* Geflüchteter
Die Verfasser*innen des offenen Briefs argumentieren gegen das Dublin-Zentrum insbesondere mit den furchtbaren Erfahrungen in Polen. Dorthin dürfe nicht abgeschoben werden, die Geflüchteten sollten in Deutschland das Asylverfahren durchlaufen. Die Verfasser*innen fordern «ein faires Asylverfahren, das die unmenschliche Behandlung in Polen berücksichtigt und nachweist, insbesondere die Gefahr der Inhaftierung in Polen.»
Das Innenministerium verweist auf die Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) für Entscheidungen über «Rückführungen» nach Polen auf Grundlage der Dublin-Verordnungen. «Informationen über Aufnahmebedingungen in Polen sowie individuelle Risiken werden durch das Bamf im Einzelfall geprüft und können Gegenstand gerichtlicher Verfahren sein.»
Auch der Verein Pro Asyl zeigt sich skeptisch gegenüber Abschiebungen nach Polen. «Wir stellen uns die Frage, wie rechtens diese Abschiebungen nach Polen sind, die Situation dort ist wirklich besorgniserregend», sagt Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher des Vereins, zu «nd». Zwar regelten die Dublin-Verordnungen, dass der Staat, in dem Asylsuchende zuerst registriert wurden, zuständig für das Verfahren sind. Allerdings gebe es davon auch immer wieder Ausnahmen: Zum Beispiel sei in der Vergangenheit aufgrund der Zustände vor Ort nicht nach Griechenland und Bulgarien abgeschoben worden. «So sehen wir auch die Situation in Polen.»
Pro Asyl lehnt ebenfalls das Dublin-Zentrum in Eisenhüttenstadt ab. «Wir hören von Betroffenen, wie prekär die Situation ist», sagt Alaows. Vor Jahren habe man etwa Griechenland für isolierte Zentren kritisiert, jetzt werde das auch zu einem System in Deutschland. «Wir haben da eine klare Haltung dagegen.» Der Verein befürchtet, dass Einrichtungen wie das Dublin-Zentrum in Zukunft in größerer Anzahl in Deutschland entstehen könnten, vor allem wenn das Gemeinsame Europäische Asylsystem, also die im vergangenen Jahr beschlossene Verschärfung des Asylrechts auf EU-Ebene, umgesetzt werde. Das soll laut EU-Plänen im Juni 2026 passieren.
Das Dublin-Zentrum in Eisenhüttenstadt könnte aufgrund der «Zurückweisungen» an der Grenze obsolet werden, doch genau diese Grenzpolitik gilt es ebenso anzugreifen. «Das ist Rechtsbruch mit Ansage», sagt Alaows. Pro Asyl hat bei der EU-Kommission eine Beschwerde gegen die Bundesregierung eingereicht, um ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzuleiten. «Wir fordern die direkte Einstellung der rechtswidrigen Praxis an den deutschen Grenzen und eine Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit.»
Wenn Passant*innen solche «Zurückweisungen» beobachteten, könnten sie sich die Dienstnummern der Polizist*innen notieren. «Man kann eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bundespolizist*innen bei Verdacht auf Rechtsbruch einreichen.» Sollte man mitbekommen, dass Betroffene ein Asylgesuch äußerten, könne es hilfreich sein, Rechtsanwält*innen zu kontaktieren und die Betroffenen zu fragen, was sie an Unterstützung brauchen.
*Namen redaktionell geändert