Ein Blick auf die Wetter-App: 34 Grad im Schatten. Es ist Mittag am bisher heißesten Tag des Jahres. Trotzdem hat die Anzeige von Wolfram Jaroschs GPS-Uhr bereits die 40-Kilometer-Marke überschritten. Die Etappe von Bitterfeld nach Wittenberg zählt zu den längsten auf seinem Weg zu Fuß von Jena nach Berlin; über 300 Kilometer in etwas mehr als einer Woche. Es geht dem 54-Jährigen nicht um eine sportliche Herausforderung. Jarosch ist der Vater von Maja T., einer nonbinären Person, die seit nunmehr einem Jahr[1] in Ungarn im Gefängnis sitzt – und sich seit einem Monat im Hungerstreik[2] befindet, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Jarosch setzt sich dafür ein, dass seinem 24 Jahre alten Kind in Deutschland der Prozess gemacht wird. »Der Weg nach Berlin ist ein verzweifelter Hilferuf an Außenminister und Kanzler, das zu tun, was ihre moralische Pflicht ist[3]«, sagt Jarosch.
Ich treffe ihn und seine Frau Tanja im Schatten eines Baumes vor dem einzigen Supermarkt eines Vororts von Wittenberg. Die beiden liegen barfuß auf zerfledderten Isomatten und ruhen sich aus, bevor sie die letzten Kilometer bis zu ihrem Etappenziel in Angriff nehmen. Tanja Jarosch begleitet ihren Mann[4] auf dem Rad, transportiert das Gepäck. Am Lenker ist ein großer Bluetooth-Lautsprecher befestigt, für die Kundgebungen auf den Zwischenstopps.
Es geht weiter: In der Sonne hat man das Gefühl, sich durch zähe Luftmassen schieben zu müssen. Wolfram Jarosch denkt bei den hohen Temperaturen zuerst an Maja. Am Vortag wurde sein Kind in ein Haftkrankenhaus verlegt[5]. Drei Stunden dauerte die Autofahrt von Budapest in den Westen Ungarns. Die Hitze müsse eine zusätzliche Belastung für den ohnehin schon geschwächten Körper sein, sagt Jarosch. Über zwölf Kilogramm habe Maja schon abgenommen, Blutdruck und Puls seien deutlich reduziert. Trotzdem gehe es Maja »den Umständen entsprechend stabil«. Allerdings sei beim gestrigen Telefonat die Verbindung schlecht gewesen und auch im Krankenhaus sei die Kommunikation schwierig, es gebe keine Übersetzung.
Doch Jarosch betont: Es sei nicht nur der Hungerstreik, der Maja zusetzt. Auch die Haft selbst schade der Gesundheit. Den größten Teil habe Maja in Isolationshaft verbracht. Laut den Vereinten Nationen gilt bereits eine Langzeit-Einzelhaft von mehr als 15 Tagen als unmenschliche Behandlung. »In Dresden hat Maja für Mitinsassen Kuchen gebacken oder mit ihnen Schach gespielt«, erinnert sich Jarosch an die Untersuchungshaft in Deutschland. In Ungarn sei die Zelle außerdem mit Bettwanzen und Kakerlaken befallen. Tageslicht komme nur durch eine kleine Klappe, Maja klage deshalb über Augenschmerzen. Auch ein ständiges Piepen im Ohr mache Maja zu schaffen.
Verglichen dazu sind die Strapazen, die Wolfram Jarosch auf sich nimmt, gering. Zwei Blasen an den Füßen plagen ihn. Der unrunde Gang direkt nach der Pause zeugt von seinem Schmerz. Doch inzwischen hat Jarosch seinen strammen Schritt wiedergefunden, in dem er innerhalb von vier Tagen knapp 150 Kilometer zurückgelegt hat. Der Biologie- und Chemielehrer hat Erfahrungen mit solch langen Distanzen. Er trägt ein Shirt mit der Aufschrift »100 KM Langstreckenwanderung 2014« und erzählt von einem 100-Kilometer-Lauf in Thüringen, den er in 10 Stunden und 23 Minuten absolvierte. Der dritte Platz in seiner Altersgruppe.
Um sich vor den beißenden Strahlen der Sonne zu schützen, trägt Jarosch einen leichten Hut mit breiter Krempe. Gekonnt trägt er im Laufen Sonnencreme auf seine Beine auf. Bis zum Ziel gibt es keinen Schatten mehr: Der Weg führt an einer Bundesstraße entlang, daneben die Schienentrasse. Die große Brücke über die Elbe ist schon in Sicht, genau wie der Turm der berühmten Schlosskirche der Lutherstadt Wittenberg.
»Es ist ein Hilferuf an Kanzler und Außenminister.«
Wolfram Jarosch Vater von Maja T.
Jarosch erinnert sich an den Tag, der auch sein Leben veränderte. Dezember 2023. Das Sturmklingeln an seiner Haustür lässt ihn aufschrecken. Polizei. Hausdurchsuchung. »Ganz nebenbei sagte mir ein Beamter, dass mein Kind verhaftet wurde«, erzählt er. Maja T. soll im Februar des Jahres an Angriffen auf Rechtsextreme in Budapest beteiligt gewesen sein. Ich möchte wissen: Was machen diese Anschuldigungen mit ihm als Vater? Jarosch verweist auf die Unschuldsvermutung und darauf, dass bisher keiner der Zeugen Maja T. identifizieren konnte, auch nicht in den im Prozess gezeigten Videoaufnahmen.
Der nächste Schock folgte ein halbes Jahr später, als Maja unangekündigt nach Ungarn ausgeliefert wurde. Für Jarosch ein skandalöser Vorgang, denn das Bundesverfassungsgericht hatte genau dies untersagt und dabei auch auf den Umgang mit queeren Personen in Ungarn verwiesen. Doch der Eilbeschluss aus Karlsruhe traf wenige Minuten zu spät ein – Maja T. war schon außer Landes gebracht worden.
»Für mich drängt sich der Verdacht auf, dass das eine koordinierte Aktion war, um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auszuhebeln«, sagt Jarosch. Die Auslieferung fand nur wenige Stunden nach der Bestätigung des Berliner Kammergerichts statt, mitten in der Nacht, mit Hubschraubern und Hundertschaften der Polizei. Wieso diese Eile, wenn nicht, um einen Eingriff des höchsten Gerichts zu unterlaufen?
Jarosch verweist auf das Vorgehen anderer Länder[6] im Umgang mit Mitangeklagten von Maja: Sowohl der italienische Außen- als auch der Justizminister sollen mit ihren ungarischen Amtskolleg*innen telefoniert haben. Sogar Ministerpräsidentin Giorgia Meloni soll zum Hörer gegriffen haben, um eine Überstellung der italienischen Aktivistin Ilaria Salis in den Hausarrest[7] zu bewirken – erfolgreich.
Ein solch resolutes Vorgehen wünscht sich Jarosch auch von Außenminister Johann Wadephul (CDU). Er hofft auf einen Termin im Auswärtigen Amt, sobald er in Berlin eintrifft. Mit dabei hat er eine Petition an Wadephul und an Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) mit inzwischen über 100 000 Unterschriften[8] und der Forderung, Maja T. zurück nach Deutschland zu holen. Unklar bleibt, ob es in der kommenden Woche zu einem Treffen kommen wird. Eine Anfrage des »nd« an das Auswärtige Amt blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Bisher hat das Auswärtige Amt lediglich zugesichert, es setze sich in der Sache »intensiv ein«. Und immerhin: Bei den weiteren Angeklagten aus Deutschland sieht es – mit Ausnahme des syrischen Staatsangehörigen Zaid A.[9] – derzeit danach aus, als würden sie nicht nach Ungarn ausgeliefert. Maja hätte dann einfach nur das Pech gehabt, vor ihnen verhaftet worden zu sein, sagt Jarosch: »Wenn Recht darin besteht, einfach nur Pech zu haben, dann ist das nicht mein Recht.«
Der nächste Blick auf die Wetter-App: Inzwischen liegt die Temperatur bei über 38 Grad. Nur noch die Brücke über die weiten Elbwiesen und die Elbe liegen zwischen den Jaroschs und ihrem Ziel. Am frühen Nachmittag erreichen sie Wittenberg. Noch 143 Kilometer bis nach Berlin.