Die Europäische Union steht an einem Wendepunkt ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Am 16. Juli will die EU-Kommission ihren neuen milliardenschweren Haushaltsplan präsentieren. Viele Akteur*innen wollen ein Stück vom Kuchen des sogenannten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR). Der europäische Wirtschaftsverband Business Europe, der auch die Interessen der Rüstungsindustrie vertritt, verlangt etwa massive Investitionen in den Verteidigungssektor. Zudem soll die EU die Rüstungsintegration vorantreiben, um die zersplitterte Beschaffung zu vereinheitlichen und private Investitionen zu erleichtern.
Lúcio Vinhas de Souza, Chefökonom von Business Europe, forderte am Freitag bei einer Diskussion im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), die Rüstungsausgaben als europäisches öffentliches Gut einzustufen. »Eine starke und wettbewerbsfähige europäische Sicherheits- und Verteidigungsindustrie ist unverzichtbar für die strategische Autonomie, industrielle Widerstandsfähigkeit und globale Wettbewerbsfähigkeit der EU«, erklärte der portugiesische Ökonom. Die Einstufung als öffentliches Gut ist entscheidend für die Vergabe von EU-Mitteln. Zuletzt hatte die EU die Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen als öffentliches Gut definiert.
Schon jetzt profitiert die Rüstungsbranche von umfangreichen nationalen und europäischen Investitionsprogrammen. [1]Deutschland allein gab 2024 über 77 Milliarden Euro für Rüstung aus. Für die EU-Staaten summierten sich die Kosten auf insgesamt 330 Milliarden Euro. Hinzu kommt das EU-Programm Readiness 2030, das 800 Milliarden Euro für den Ausbau der Verteidigung vorsieht, finanziert unter anderem durch Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB). Für gemeinsame Beschaffungsprojekte unter dem Namen Safe plant die Kommission weitere 150 Milliarden Euro Schulden, die über den laufenden EU-Haushalt abgesichert werden sollen. Mit ähnlichen Mechanismen ist auch im Rahmen des neuen Haushalts zu rechnen.
Erklärtes Ziel der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist es, die Verteidigungsausgaben der Länder bis 2035 auf die Nato-Vorgabe von fünf Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern [2]– davon 3,5 Prozent für militärische Zwecke und 1,5 Prozent für sogenannte Dual-Use-Projekte. Also Projekte, die auch zivil genutzt werden können, wie Satellitensysteme oder Kommunikationsinfrastruktur. Da die EU die Gelder lediglich bereitstellt und die Kredite absichert, die Beschaffung aber letztlich durch die Mitgliedstaaten erfolgt, fließen sie in die jeweilige nationale Berechnung für das Nato-Ziel ein. »Es ist viel, aber reicht es?«, fragt Business-Europe-Chefökonom de Souza. Zum Vergleich: Russland investierte 2024 laut offiziellen Angaben knapp 150 Milliarden Euro – rund sieben Prozent seines BIP.
Alexandr Burilkov, Verteidigungsexperte des Thinktanks Globsec Geotech, warnt vor Russlands wachsender militärischer Stärke. Nicht nur sei die Produktion mittlerweile auf den Krieg umgestellt, sodass die hohen Materialverluste in der Ukraine ausgeglichen werden können. Auch werde Russlands Armee bis 2030 sowohl quantitativ als auch qualitativ zulegen, schätzt der Experte. Er rechnet mit bis zu 16 neuen Brigaden, bestehend aus je 3000 bis 5000 Personen. Insgesamt soll die Armee auf 1,5 Millionen aktive Soldaten wachsen.
Es geht laut Burilkov nicht nur um Geld, sondern auch um die faktischen Kapazitäten. Und da weist Europa dem Experten zufolge nach wie vor erhebliche Defizite auf. Sowohl bei Bodentruppen, der Artillerieabwehr, Flugzeugen und Langstreckenraketen als auch bei strategischen Fähigkeiten wie bei Künstlicher Intelligenz gebe es Lücken. Mindestens 25 neue EU-Brigaden seien nötig, jede ausgestattet mit 1400 Panzern, 2000 Infanteriefahrzeugen und 700 Artilleriegeschützen. Die geschätzten Kosten allein für das Material: 250 Milliarden Euro.
Isabelle Barthes von der Industriegewerkschaft Industriall Europe [3]erkennt die Notwendigkeit von Verteidigungsanstrengungen an, mahnt aber, Europa müsse ein Friedensprojekt bleiben. »Resilienz entsteht nicht nur durch Abschreckung, sondern durch Einheit«, sagte sie am Freitag. Die Einheit und der demokratische Zusammenhalt seien gefährdet, wenn Verteidigungsausgaben andere wichtige Investitionen verdrängten – etwa in die ökologische Transformation oder soziale Projekte. Barthes kritisiert, dass beim nächsten EU-Haushalt Mittel aus dem Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung und dem Europäischen Sozialfonds zugunsten von Rüstungsprojekten umgeleitet werden könnten.
Auch warnt sie vor einer weiteren Deindustrialisierung, wenn zivile Unternehmen auf Rüstungsproduktion umstellen. Eine starke industrielle Basis sei essenziell, etwa in der Stahl-, Chemie- und Halbleiterproduktion, die auch für die Verteidigung und strategische Autonomie benötigt würden. Die steigende Nachfrage nach Rüstungsgütern erhöhe zudem den Druck auf die Beschäftigten. Angesichts von Personalmangel und fehlenden Qualifikationen müssten sie zusätzliche Nachtschichten leisten. Immer häufiger kämen Zeitarbeiter*innen zum Einsatz. Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Ausnahme des Rüstungssektors von der Arbeitszeitrichtlinie, die eine maximale Wochenarbeitszeit von 48 Stunden vorsieht, bezeichnete sie aus Gewerkschaftssicht als »rote Linie«.
Barthes fordert dagegen einen umfassenden Ansatz, der Verteidigung mit wirtschaftlicher Stabilität und sozialen sowie ökologischen Zielen verbindet. Sie verlangt darum von der EU-Kommission, für grüne und digitale Investitionen dieselbe fiskalische Flexibilität zu gewähren wie für Verteidigungsausgaben. Davon aber ist die Debatte meilenweit entfernt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192394.aufruestung-bewaffnung-mit-eu-geldern.html