Die deutsche Debatte um angeblich antisemitische Darstellungen in der Palästina-Solidarität ist um eine Wendung reicher: Die Thüringer Gedenkstätte des ehemaligen KZ Buchenwald hat vor zwei Monaten einen Leitfaden erstellt, der die als »Palästinensertuch« bezeichnete Kufiya[1] sowie die Forderung nach einem Waffenstillstand im Gaza-Krieg als »israelfeindlich« und damit antisemitisch einordnet – dabei ist die palästinensische Kufiya als immaterielles Kulturerbe der Unesco anerkannt, und selbst die Bundesregierung setzt sich für eine Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Israel und der Hamas ein.
Auszüge und der Link zu dem 57-seitigen Dokument sorgten am Montag in sozialen Medien für heftige Kritik. Die staatlich finanzierte Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora erklärte daraufhin[2], es handele sich um eine »hausinterne Handreichung für Mitarbeitende der Bildungsabteilung und der Security«. Sie solle helfen, Codes und Symbole zu erkennen, die Rassismus, Antisemitismus oder andere menschenfeindliche Ideologien verbreiten. Werden solche in der Gedenkstätte festgestellt, kann dies zum Ausschluss von Personen führen.
Es handele sich nicht um ein offizielles Dokument, erklärt ein Sprecher gegenüber »nd«, es sei »nicht von der Leitung abgesegnet«. Einige Formulierungen seien auch »nicht so, wie sie sein sollten«. Welche das sind, wollte der Sprecher nicht sagen.
In dem Papier wird auch das Symbol der Wassermelone »als Ersatz für die palästinensische Fahne« in einen antisemitischen Kontext gestellt. Dasselbe gilt für den Vorwurf von Apartheid in den von Israel völkerrechtswidrig besetzten Gebieten sowie die Meinung, das israelische Militär begehe in Gaza einen Völkermord – ein Vorwurf, den auch der Internationale Gerichtshof für plausibel hält[3]. Wer außerdem das Symbol eines Olivenzweigs trage, setze sich laut der Thüringer Gedenkstättenstiftung für das völkerrechtlich verbriefte (von der Stiftung aber in Anführungszeichen geschriebene) Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge ein und stelle damit »die Existenz Israels infrage«.
Ebenfalls in der Handreichung findet sich die Behauptung, wer das seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung verbreitete Symbol blutverschmierter Hände nutze, wolle damit den vor einem Vierteljahrhundert begangenen Mord an zwei israelischen Soldaten preisen – eine konstruierte Verschwörungserzählung, wie das »nd« jüngst zeigen konnte[4].
Auf die vielfach geäußerte Entrüstung ging Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner nicht ein, berichtete aber auf der Plattform X[5], dass Mitarbeitende nach Bekanntwerden der Handreichung »wüst beschimpft« worden seien. Das reiche bis zu Morddrohungen, sagte Wagner zu »nd«. Es habe sich um »einige Dutzend« Mails gehandelt – darunter allerdings auch »mehrere solidarische«. Auch in den sozialen Medien werde laut Wagner in Kommentaren gegen Privatpersonen »gehetzt«.
Den Mitarbeitenden der NS-Gedenkstätten sei »sehr bewusst, dass Codes und Symbole stets im Kontext ihrer Verwendung interpretiert werden müssen«, heißt es in der Stellungnahme vom Montag. Die »Handreichung« dürfe auch nicht losgelöst vom Kontext ihrer Entstehung verstanden werden: das ehemalige KZ Buchenwald »vor gegenwärtigen Instrumentalisierungen und gezielten Provokationen zu schützen«. Zur Geschichte des Ortes gehört aber auch: Buchenwald war anfangs hauptsächlich für politische Gegner des Faschismus gedacht. Später kamen zwar weitere Häftlingsgruppen hinzu, doch die politische Verfolgung blieb prägend.
Die erst im Mai erstellte »Handreichung« soll nun überarbeitet werden, sagte Gedenkstättenleiter Wagner zu »nd«. Damit habe man »bereits begonnen«. Allerdings wurde sie auch über Thüringen hinaus verteilt: Recherchen des »nd« belegen, dass das Dokument etwa in Schleswig-Holstein vor zwei Wochen über mindestens vier Justizverteiler des Oberlandesgerichts verschickt wurde. Darüber wurden nicht nur alle Richter*innen, sondern auch Sekretariate und Mitarbeitende der Bewährungshilfe erreicht – die Falschbehauptungen über »antisemitische Codes und Symbole« könnten also in Urteile oder Bewährungsauflagen einfließen. Absender der Mail ist ein OLG-Richter, der dies laut Mail »auf Anregung« seines Präsidenten Dirk Bahrenfuss getan haben will.
Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein erklärte gegenüber »nd«, dass der Leitfaden bei der Tagung der OLG-Präsidenten Ende Mai in Weimar nach einem Gedenkstättenbesuch übersandt und von dort »informatorisch« weiterverteilt wurde – ohne dass auf den internen Charakter aufmerksam gemacht worden sei. Nachträglich werde nun per Mail darauf hingewiesen.
Die nachträgliche Einordnung der Handreichung als »intern« muss womöglich auch in anderen Bundesländern erfolgen: Laut der Gedenkstätte Buchenwald wurde das Dokument an alle Teilnehmer*innen der bundesweiten OLG-Tagung verschickt.
Offen bleibt, welchen Mehrwert die Justiz in Schleswig-Holstein oder anderen Bundesländern im Versand der Thüringer »Handreichung« sieht. Denn das dortige Landeskriminalamt und die Generalstaatsanwaltschaft haben selbst einen solchen Leitfaden erstellt – er soll allerdings geheim bleiben. Alle Landespolizeibehörden und Staatsanwaltschaften arbeiten seit dem 15. Januar 2024 damit, bestätigte der Generalstaatsanwalt des nördlichsten Bundeslandes »nd«. Bei der Erstellung hat der Antisemitismusbeauftragte geholfen, orientiert habe man sich dabei an ähnlichen Leitfäden anderer Bundesländer.
In Berlin[6], Rheinland-Pfalz[7] oder Niedersachsen[8] wurden dort für Polizei und Justiz existierende Leitfäden indes veröffentlicht. In einigen Bundesländern war auch die umstrittene[9] Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) daran beteiligt. Die Organisation kategorisiert »israelbezogenen Antisemitismus« nach einer »3D-Regel«, der zufolge der Staat dämonisiert oder delegitimiert sowie Doppelstandards angelegt würden, da bestimmte Menschenrechtsverletzungen bei Israel kritisiert, vergleichbare Taten in anderen Ländern aber ignoriert würden.
Die Thüringer »Handreichung« fügt dem mit »Derealisierung« ein weiteres »D« hinzu. Gemeint ist eine Verzerrung der Realität als zentrales Merkmal angeblich antisemitischer Israel-Kritik. Dieser Vorwurf trifft Gruppen und Personen, die Israels verheerenden Gaza-Krieg nicht als »Selbstverteidigung« betrachten wollen.