Zum dritten Mal in kurzer Zeit hat die Bundesregierung gerichtlich bestätigt bekommen, dass von ihr verfügte Maßnahmen rechtswidrig sind. Am Dienstag entschied das Verwaltungsgericht Berlin, dass das Auswärtige Amt einer Afghanin und ihrer Familie Visa zur Einreise nach Deutschland erteilen muss, da bereits entsprechende Zusagen gemacht wurden. Die Entscheidung fiel in einem Eilverfahren im Streit um das Bundesaufnahmeprogramm[1] für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen. Die Bundesregierung habe sich »durch bestandskräftige, nicht widerrufene Aufnahmebescheide rechtlich zur Aufnahme gebunden«, erklärten die Richter zur Begründung. »Von dieser freiwillig eingegangen Bindung« könne sich Deutschland nicht lösen.
Damit war der Eilantrag der Juradozentin und ihrer 13 Familienangehörigen, die in Pakistan auf Visa warten, in erster Instanz erfolgreich. Das Auswärtige Amt ist nach der Entscheidung laut Gerichtssprecherin verpflichtet, sofort zu handeln. Gegen den Beschluss kann jedoch Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden. Sollte die Behörde das tun, könnte es zu Verzögerungen kommen.
In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich CDU, CSU und SPD darauf geeinigt, keine neuen freiwilligen Aufnahmeprogramme des Bundes für bestimmte Gruppen von Schutzbedürftigen mehr zu starten und laufende »soweit wie möglich« zu beenden. Für das Bundesinnenministerium, das das Aufnahmeprogramm gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt verantwortet, ist dies binnen weniger Wochen die dritte Niederlage vor Gericht. Anfang Juni hatte eine andere Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts die Zurückweisung dreier Asylsuchender aus Somalia nach Polen für rechtswidrig erklärt. Am 24. Juni wiederum hob das Bundesverwaltungsgericht das Verbot des extrem rechten Magazins »Compact« auf, das die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor einem Jahr erlassen hatte.
Die Richter betonen in ihrem Beschluss zugleich, dass die Bundesregierung frei darüber entscheiden kann, ob sie das Aufnahmeverfahren für afghanische Staatsangehörige beenden will. Auch könne sie von neuen Aufnahmezusagen absehen. Im vorliegenden Fall könnten sich die Betroffenen jedoch auf die bereits gemachten Zusagen berufen.
Bei der Frau und ihrer Familie seien Aufnahmezusagen bestandskräftig geworden, so die zuständige 8. Kammer. Zudem erfüllten die Betroffenen die Voraussetzungen für ein Visum: Es seien keine Sicherheitsbedenken ersichtlich, und die Identität der Menschen sei geklärt. Der Familie droht nach eigenen Angaben die Abschiebung aus Pakistan nach Afghanistan, wo ihr Leben unter der Herrschaft der radikalislamischen Taliban gefährdet sei. Dies wurde aus Sicht des Gerichts glaubhaft dargestellt.
Nach der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 wurden verschiedene Aufnahmeverfahren für Menschen aus Afghanistan eingerichtet. Ursprünglich hatte die Ampel-Koalition geplant, ihre Ausreise nach Deutschland noch während der laufenden Legislaturperiode zu organisieren. Daraus wurde dann auch deshalb nichts, weil es nach dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition vorgezogene Neuwahlen gab. Der vorerst letzte von der Bundesregierung organisierte Charterflug für Menschen aus dem Bundesaufnahmeprogramm landete am 16. April in Leipzig.
Politiker der Unionsparteien hatten sich darüber empört. Die neue Bundesregierung von CDU, CSU und SPD stoppte die Programme dann Anfang Mai. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes vom 20. Juni warten rund 2400 Menschen in Pakistan auf ein Visum. Es handelt sich um Menschen, die sich in Afghanistan für Gleichberechtigung und Demokratie eingesetzt haben, unter ihnen Richter, Journalistinnen und Künstler.
Eine Aussage dazu, ob die Bundesregierung weitere Charterflüge nach Deutschland für die Betroffenen organisieren müsse, hat das Gericht nicht getroffen. Womöglich müsste die Reise nach Deutschland also von den Afghaninnen und Afghanen mit Aufnahmezusage selbst organisiert und finanziert werden. Das könnte schwierig werden, da viele von ihnen durch die lange Wartezeit in Pakistan keine finanziellen Ressourcen mehr haben.
Mit zahlreichen Klagen will die Organisation »Kabul Luftbrücke« die Fortsetzung des Aufnahmeprogramms für besonders gefährdete Menschen erzwingen. Die Betroffenen hätten ihre Heimat im Vertrauen auf deutsche Versprechen verlassen, erklärte Sprecherin Eva Beyer im Juni, als die ersten 26 Verfahren in Berlin eingereicht wurden. Der aktuelle Gerichtsbeschluss sei nicht nur eine Einzelfallentscheidung, hieß es von der Organisation. Die Richter stellten grundsätzlich klar: »Die Bundesregierung ist rechtlich verpflichtet, die Zusagen umzusetzen, und zwar schnell. Ansonsten drohen Schäden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können.«
Dem Gericht liegen nach eigenen Angaben etwa 40 Fälle als Eilanträge und Klagen von Afghanen vor. Diese seien aber unterschiedlich gelagert. Über die Verfahren müssten jeweils unterschiedliche Kammern entscheiden. Es sei unklar, wann dies geschehe. Offen ist auch, ob die anderen Richter die gleiche Auffassung vertreten wie die 8. Kammer.
Die Linke-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger erklärte, der Gerichtsbeschluss fordere eine umgehende Ausstellung der Visa. »Ich erwarte daher von der Regierung alle notwendigen Schritte einzuleiten, um die Ausreisen zu ermöglichen.« dpa/nd